3. Juli 2022
Hoch lebe der Train Tracker! So weiß ich schon kurz nach dem Aufstehen, dass ich mir heute morgen Zeit lassen kann, und mir noch ein paar zusätzliche Stunden im schönen Truckee gegönnt sein werden.
Nach dem Frühstück schnappe ich mein Gepäck und nehme den Bus ins historische Zentrum. Der Amtrak-Bahnhof – genauer gesagt ist es nur ein Stopp und kein Bahnhof – ist mitten im Ort gelegen. Im gleichen Gebäude befindet sich auch die Touristeninformation. Dort kann ich mein Gepäck deponieren, wie ich gestern schon in Erfahrung gebracht hatte.
Bevor ich zu einem gemütlichen Bummel durchs Örtchen und durch die Geschäfte aufbreche, gönne ich mir erst einmal meinen rituellen Morgenkaffee und betreibe meine Sozialstudien. Dabei fällt mir nicht zum ersten Mal auf, dass es hier sehr viele Hunde gibt. Fast habe ich den Eindruck, ohne Vierbeiner hier zu einer Minderheit zu gehören.
Auch das Verhalten der kalifornischen Autofahrer erregt meine Aufmerksamkeit. Es unterscheidet sich meiner Beobachtung nach in der Tendenz schon etwas von dem der Bewohner anderer Bundesstaaten. Wenn es ihnen nicht schnell genug geht, wird sofort gehupt. Fast komme ich mir vor wie in Berlin! Doch als Fußgängerin werde ich höflich und rücksichtsvoll behandelt.
Kurz nach Mittag wird es Zeit, mein Gepäck zu holen und meiner nächsten Zugfahrt mit dem California Zephyr entgegenzufiebern. Um 12:40 Uhr ist es soweit – drei Stunden zu spät. Doch ich kann mich nicht oft genug wiederholen: der Glücklichen schlägt keine Stunde! Und ich bin froh über die geschenkte Zeit in Truckee.
Wenige Minuten vor der Einfahrt des Zuges kreuzt Andreas samt Hund neben mir auf dem Bahnsteig auf. Der Amerikaner mit deutschem Namen und in den 1950er Jahren aus Deutschland ausgewanderten Eltern spricht akzentfreies Deutsch und vertreibt europäisches Bier in San Francisco. Er ist hier, um Frau und Tochter abzuholen. Diese sind letzte Nacht in Salt Lake City in den Zug gestiegen und hatten wohl einen deutlich abenteuerlicheren Trip als ihnen lieb war.
Doch schlussendlich kann er die beiden nun unversehrt in die Arme schließen, um das lange Wochenende hier in der eigenen Wohnung in Truckee zu verbringen. Bevor wir uns verabschieden, drückt er mir noch seine Visitenkarte in die Hand. Er sei zwar nächste Woche ziemlich busy im Job. Doch falls was sei und ich irgendeine Hilfe oder einen Rat bräuchte, könne ich mich gerne bei ihm melden, wenn ich demnächst in San Francisco bin.
It’s boarding time! Zusammen mit mir steigen noch vier weitere Fahrgäste ein. Massenandrang für Truckee-Verhältnisse 😂. Heute führt mich mein Weg ins rund 180 Kilometer entfernte, südwestlich gelegene Davis, das nur wenige Kilometer hinter Sacramento, der Hauptstadt Kaliforniens, liegt.
Mein Sitznachbar Richard, ein pensionierter Bahningenieur aus dem Süden Englands, ist ein Glücksgriff. Mit ihm verbringe ich die nächsten Stunden im Observation Car mit guten Gesprächen. Richard reist ebenfalls mehrere Wochen lang alleine und ohne Auto durch die USA und ist bestens vorbereitet. Fein säuberlich hat er seine Unterlagen sortiert und stets die richtigen Zettel griffbereit.

Gemächlich schraubt sich der Zug die Sierra Nevada hoch und bietet uns schöne Panoramablicke auf den Donner Lake und die hügelige Landschaft.



Dann geht es abwärts auf einer sehr schönen Strecke und an großen Nadelwaldflächen entlang.
Die drei Stunden Verspätung, die der Zug hatte, als er Truckee erreichte, schrauben sich auf viereinhalb Stunden hoch. Offenbar sind vorab nicht bekannte Gleisbauarbeiten auf der Strecke im Gange, die zum Glück an der Stelle, an der wir zwangsweise gestoppt werden, zweigleisig ist. Und so gurken wir nach geraumer Wartezeit ein paar Meilen zurück bis zur nächstgelegenen Weiche, wechseln dort das Gleis und machen uns wieder auf den Weg in die richtige Richtung.

Bald wird es urbaner. Eine Ortschaft reiht sich an die nächste, alle unübersehbar bereits im Fourth of July-Vorbereitungsfieber. Wenige Meilen vor Sacramento werden die Aus- und Anblicke unschön. Entlang der Gleise reiht sich ein Zelt-Slum an das nächste. Das nimmt viele Meilen lang kein Ende. Vorwiegend heruntergekommene Drogenabhängige – unschwer auch im Vorbeifahren zu erkennen – hausen dort im schlimmsten Chaos inmitten von Müllbergen. Ab einem bestimmten Abhängigkeits- und Verelendungsgrad scheint alles egal zu werden. Das nächste Foto zeigt noch eine der eher weniger trostlosen Szenen.

Richard und ich als inoffizielle Vertreter Europas äußern uns schockiert über die Zustände, die sich hier eine gefühlte Ewigkeit vor uns ausbreiten. Eine in der Nähe sitzende Amerikanerin möchte unsere Anmerkungen so nicht stehen lassen und klinkt sich in unser Gespräch ein. Das ginge hier in der Bay Area ja noch, entgegnet sie. Bei ihr zuhause in Los Angeles seien die Zustände noch viel schlimmer. Und im übrigen würden die Gemeinden sehr wohl Hilfen und auch Unterkünfte für Leute auf der Straße bereitstellen. Viele jedoch würden daran scheitern, dass als Voraussetzung negative Drogentests verlangt werden. Da verharrten einige dann doch lieber in ihrem Elend.
Next Stopp Davis. Ich wundere mich etwas, dass die übliche Ansage vor der Einfahrt in den Bahnhof ausbleibt, aber ich bin ja vorbereitet. Ich verabschiede mich von Richard, stiefele in den unteren Stock, schnappe meinen Koffer und warte brav an der Tür meines Waggons darauf, dass der zuständige Schaffner bzw. jemand vom Bahnhofspersonal kommt und die Tür öffnet. Ich erwähnte es bereits an anderer Stelle: Bei diesen alten Langstreckenzügen funktioniert wenig elektronisch, dafür umso mehr rein mechanisch. Handarbeit ist hier gefragt.
Doch es lässt sich niemand blicken. Weder drinnen noch draußen ist eine Menschenseele zu sehen. Auch keine anderen Fahrgäste, die hier ein- oder aussteigen wollen. Ich rufe laut. Ich klopfe gegen die Scheiben. Ich versuche, eigenmächtig die Tür zu öffnen. Hektisch renne ich wieder in den oberen Stock, wo mein Sitzplatz war, um den Schaffner zu erwischen. Keine Chance! Und so muss ich hilflos zusehen, wie der Zug nach zweiminütigem Stopp einfach weiterfährt – mit mir an Bord! Offenbar wollte keiner sonst hier aussteigen. Und da wurde ich einfach vergessen.
Ach, mein lieber California Zephyr, du wolltest mich einfach noch nicht gehen lassen. Als ob du geahnt hättest, dass unsere gemeinsame Zeit bald zu Ende geht!
Nun kann ich mir Zeit lassen. Ich laufe wieder hoch in den ersten Stock und gabele dort endlich den Schaffner auf. Diesem ist das Missgeschick natürlich total peinlich. Und alle Fahrgäste im Wagen haben die Slapstick-Einlage natürlich auch mitgekriegt. Die gleiche Geschichte passierte übrigens einem Fahrgast aus einem der Schlafwagenabteile ein paar Stationen vorher auch schon. Da hielt ich das noch für ein kurioses Einzelschicksal 😅.
Der zerknirschte Schaffner sucht mir flott die Verbindung vom nächsten Stopp in Martínez zurück nach Davis heraus.

Dort fährt zum Glück auf gleicher Strecke der Nahverkehrszug Capitol Corridor in einigermaßen regelmäßigen Abständen. Nun wird es noch kurioser. Denn ich bitte ihn um eine Bescheinigung, die mir als Fahrkartenersatz für die außerplanmäßige Fahrt dienen kann. Das scheint nicht unbedingt üblich zu sein, denn ich erhalte daraufhin diesen Wisch, über den ich mich heute noch köstlich amüsiere. So viel Humor hat die Deutsche Bahn mir gegenüber noch nie an den Tag gelegt!


Bis Martínez braucht der Zug rund 45 Minuten. Da lohnt es sich, es mir wieder auf meinem alten Sitz gemütlich zu machen. Richard freut sich, dass ich ihm nun doch noch etwas länger Gesellschaft leiste. Kaum sitze ich, kriegt er einen Lachanfall. „Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen!“, bricht es aus ihm heraus. Auch ein paar andere Fahrgäste im Abteil amüsieren sich darüber, dass ich nun zwangsläufig bis Martínez mitfahren muss. Das ist jedoch keinesfalls als Schadenfreude mir gegenüber zu verstehen. Es passt halt in ihr Bild von Amtrak 😁.
Einfahrt in den Bahnhof von Martínez. Auf dem Bahnsteig spricht mich eine ebenfalls gerade ausgestiegene Dame an. „Du bist doch die, die … !?!“ Ja, genau die bin ich. So schnell wird man ohne eigenes Zutun zum Gesprächsthema.
Die verbleibenden 20 Minuten Wartezeit auf den Zug zurück nach Davis überbrücke ich mit einem netten Gespräch mit dem Langstreckenradler, den ich auf dem Bahnsteig kennenlerne.
Der Capitol Corridor ist pünktlich. Die untere Etage des Großraumwagens, in den ich einsteige, habe ich komplett für mich alleine. Es ist Sonntagabend. Da sind wohl alle schon dort, wo sie sein wollen. Und so reite ich als lonesome cowgirl auf meinem metallenen Pferd heroisch in den romantischen kalifornischen Sonnenuntergang – als moderne Fassung der Marlboro-Werbung 😎.

Schlussendlich erreiche ich mein Ziel mit sechs Stunden Verspätung. Zu den vier Stunden, auf die es der California Zephyr brachte, gesellten sich noch zwei weitere, die Amtrak mir durch die Extrarunde großzügig spendiert hat. Heute habe ich eine Menge Schiene für mein Geld bekommen.
Der Weg zu meinem Hotel ist nicht weit. Dort wartet eine freudige Überraschung auf mich: ein kostenloses Upgrade für eine Suite! In diesen endlosen Weiten kann ich mich hemmungslos ausbreiten.

Nach einem recht späten Abendessen beim Mexikaner um die Ecke falle ich ermattet ins bequeme Bett und bin alsbald in tiefem Schlummer. What a day!
Und hat es denn funktioniert? Hast du mit deinem „Wisch“ als Fahrkarte kostenlos fahren können? Liest sich zumindest so als ob 🙂 Was für eine Einlage, aber ich denke, der Schaffner hat seine Notiz nicht als Humor verstanden haben wollen. Was natürlich in diesem Fall noch humorvoller ist…
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Ich wurde nicht kontrolliert 😅. Von daher musste der sich Wisch nicht beweisen. Ja, der Schaffner hat das sicher gut und ernst gemeint – und hat damit ungewollt dazu beigetragen, dass die Sache noch mehr Witz entwickelt hat 😁.
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Das ist ja eine dolle Geschichte: Elke im Zug vergessen! Aber letztendlich wurde doch noch alles gut.
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Genau 😎.
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Zum Glück bist du doch noch gut angekommen. Mit dem Amtrak bin ich noch nicht mitgefahren, das würde ich gerne mal machen
LG Andrea
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Ich kann dir so eine Zugfahrt wirklich sehr empfehlen! Sollten deine Pläne konkreter werden, gebe ich dir gerne Tipps, wenn du magst.
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Danke Elke
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ach wie wunderbar geschildert! Elke, du solltest Bücher schreiben… Nach längerer Zeit habe ich mal wieder intensiv dein Reisebericht gelesen! Herrlich!!! Elke kann nicht aussteigen…oh je, ich hätte Panik bekommen. Ist ja nochmal alles gut gegangen!
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Danke Andrea!
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Was für ein Abenteuer! Bestimmt hat der Schaffner ein Nickerchen gemacht. Die Zelt-Ansammlung erinnert mich an Indien…
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@Schaffner: sowas in der Art hatte ich auch schon vermutet 😁. An Indien musste ich auch denken, als ich gefühlte Ewigkeiten an diesen Slums vorbeifuhr.
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Den Gedanken hatte ich auch. Sieht aus wie unter einer Brücke in Indien, in den Zügen siehts aber aus wie bei Boing.
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Ja, der Vergleich mit Indien ist gar nicht mal so sehr aus der Luft gegriffen. Was Amtrak und Boeing betrifft, nun, hüstel, da muss Amtrak noch ein wenig an der Hygiene und dem technischen Standard arbeiten 😅. Aber dafür bietet die Bahn mehr Abenteuer und Skurrilitäten.
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…und vielleicht arbeiten sie nochmal am Namen, klingt wie ein Nervengift … finde ich 😉
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😁😁😁
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