Am frühen Abend steige ich aus dem Zug, lasse die Szenerie auf mich wirken und entscheide binnen zehn Minuten, diesen ungastlichen, dreckigen und kriminellen Ort auf der Stelle wieder zu verlassen. Egal wohin. Wenig später sitze ich im nächsten Zug nach Toulouse. Ja, so war das anno 1986 aus der subjektiven Sicht einer Zwanzigjährigen.
Genau 30 Jahre später muss ich mich aus Zeitgründen zwischen Nizza und Marseille entscheiden. Nizza, die Schöne, gewinnt. Nun aber, im Mai 2019, ist es soweit. Die verrufene Hafenstadt an der französischen Mittelmeerküste, mit rund 900.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt des Landes, soll endlich ihre Chance bekommen!
Tag 1
Und so sitze ich am Nachmittag des 9. Mai 2019 im Flieger. Gen Süden? Nö, erst einmal eine ganze Weile startklar am Boden des Flughafens in Schönefeld. Denn Frankreichs Fluglotsen sind im Warnstreik. Und so harren die Crew und wir Passagiere eingepfercht im orangenen Metallvogel, bis sich der Stau über Frankreichs Luftraum in selbigen aufgelöst hat.
Der Pilot hat heute die Spendierhosen an und lädt als Entschädigung für die Wartezeit am Boden zum Tag der offenen Tür ins Cockpit. Familien mit Kindern bevorzugt. Und so verzichte ich großzügig auf das durchaus verlockende Angebot.
Mit einer Stunde Verspätung landen wir in Marseille, wo mich angenehme 21 Grad und Sonnenschein erwarten. Per Bus geht es binnen 25 Minuten zum Hauptbahnhof. Von dort ist es nur noch ein kurzer Spaziergang zum Hotel, das mich mit seiner zentralen und ruhigen Lage erfreut. Erste kurze Gespräche mit den Menschen im Bus, am Bahnhof, auf der Straße, an der Rezeption. Spricht man mit ihnen in der Landessprache, klappt der Laden.
Ich beziehe mein schnuckeliges, kleines Appartement und begebe mich anschließend auf einen ersten Erkundungsgang in der Umgebung. Ohne Kamera. Doch keine Sorge, ihr kommt schon noch auf eure Fotokosten 😎.
Das Herz der Stadt, der Vieux Port (Alter Hafen), ist binnen weniger Minuten erreicht. Ich lasse mich ein wenig durch die umliegenden Gässchen treiben und halte Ausschau nach etwas Essbarem. An der Place Thiars werde ich fündig und fülle meinen hungrigen Magen.
Danach flaniere ich weiter an der Hafenpromenade entlang. Viel einheimisches Publikum ist unterwegs. Die ganze Szenerie macht einen sympathisch herb-bodenständigen Eindruck. Wäre der Begriff nicht schon inhaltlich so überstrapaziert und in eine Richtung abgenutzt, hätte ich das Ganze proletarisch genannt. Nein, bitte nicht verwechseln mit prollig! Das wäre in dem Zusammenhang fehl am Platze.
Zurück zum Hotel und ab ins Bettchen. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie müde so ein Anreisetag machen kann, obwohl man die meiste Zeit nur wartet, herumsitzt, fliegt und/ oder fährt.
Tag 2
Am Morgen hektisches Wühlen im Gepäck. Wo ist nur mein grüner Reisekumpel? Die Sachlage ist eindeutig: Monsieur hat gekniffen und ist lieber in Berlin geblieben. Na warte, du Drückeberger!
Nun aber los. Ich überquere die schön sanierte Rue de la République, …
… und überlege kurz, weshalb mich diese Straße so an Paris erinnert. Des Rätsels Lösung: Baron Haussmann und die gestrengen Auflagen des Herrn, der als DER Stadtplaner von Paris in die Geschichte einging.
Und ab jetzt geht es munter auf und ab. Direkt jenseits der République liegt das älteste Viertel von Marseille, erbaut auf den Resten der antiken griechischen Stadt Massalia. Dieser auf einem Hügel gelegene Teil der Altstadt heißt Le Panier, benannt nach einer Taverne, die es im Mittelalter hier gab. Seit einigen Jahren wandelt es sich mehr und mehr vom Arme-Leute-Viertel zur In-Adresse für Künstler und Kreative.
Doch wer jetzt denkt, es sei im Zuge der Gentrifizierung schick durchsaniert worden, der irrt. Charmant blättert der Putz von den Mauern, alles ist krumm und schief und herrlich unperfekt. Kleine Lädchen, Galerien und Cafés, umgeben von Blumen und sonstiger Deko, überraschend hochklassige Street Art, verwunschene Gassen, gemütliche Plätze und das alles in dörflicher Stille und Gemütlichkeit. Großartig!
Ja, ja, schon gut. Her mit den Fotos!
Nicht vorenthalten will ich euch auch den Schauplatz einer in Frankreich sehr bekannten Daily Soap namens „Plus belle la vie“. In der Serie heißt das Café „Mistral“, doch in echt hört es auf den Namen … ach, lest doch selbst 😎.
Zwischendurch ein kurzer Abstieg, um die Hauptfassade des Hôtel-Dieu, eine ehemalige Krankenanstalt aus dem 12. Jahrhundert, gebührend zu bewundern. Heute logiert hier die zahlungskräftige Kundschaft des Hotels Intercontinental.
Und wenn ich schon mal gerade „unten“ bin, nehme ich das Rathaus ein paar Meter weiter am Hafen gleich auch noch fotografisch mit.
Danach erklimme ich wieder einige Stufen nach oben. Denn ich bin noch nicht fertig mit dem Panier. Next Stop Vieille Charité, deren noble Steinkuppel schon bald aus dem soukartigen Gassengewirr hervorlugt.
Ursprünglich als Armenhaus für rund 1.000 Bedürftige errichtet, hat der beeindruckende Komplex anschließend eine abwechslungsreiche Karriere als Lazarett, Kaserne, Kinder- und Altenheim, besetztes Haus, Ausstellungs- und Konzerthalle, Museum und Bildungseinrichtung gemacht. Solch einen Lebenslauf muss man als Gebäude erst mal hinlegen, auch wenn man schon Hunderte von Jahren auf dem ansehnlichen Buckel hat.
Der gesamte Komplex ist heute frei zugänglich, fungiert als interdisziplinäres Zentrum für Kultur und Wissenschaft und beherbergt u.a. zwei Museen. Eines zeigt Antike Kunst aus dem gesamten Mittelmeerraum, das andere Kunst aus Afrika, Ozeanien und Amerika.
Ich lasse mich weiter treiben, passiere den ältesten Platz der Stadt, den charmanten Place de Lenche mit seinen einladenden Cafés, …
… und nähere mich einem imposanten Blickfang, der sowohl vom Wasser als auch von der Stadt aus mächtig Eindruck macht. Die Cathédrale de la Major ist wahrlich ein Vorzeigeobjekt!
Und damit bin ich am Beginn einer der spannendsten Gegenden Marseilles angelangt, von der es eine Menge zu erzählen und zu zeigen gibt. Zuviel, um das alles noch in diesen Bericht zu integrieren. Fortsetzung folgt als weiterer Blogbeitrag namens Tag 2b 😎. Stay tuned!
Ah, Fronkreisch! So schöne streetart und viele Infos. Beeindruckend, da nicht nur kryptische taks, wie hier in Berlin. Mehr davon. 😀
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Immer gerne! Fortsetzung folgt 😎.
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Na jetzt machst du es aber spannend!😅
Marseille hatte meinen Eltern auch ziemlich gut gefallen, auch wenn dort in ihr WoMo eingebrochen und sie schwer beklaut wurden. Schwierig auf der Gendarmerie, wenn man kein Französisch spricht. Die Fotos sind jedenfalls sehr schön. Gut, dass die Gentrifizierung (noch) nicht den maroden Charme zerstört hat. Möge es noch eine Weile so bleiben.
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@ Einbruch: 😱😱😱 Da hat Marseille seinem Ruf als Kriminalitätshochburg des Landes ja alle unrühmliche Ehre gemacht. Das glaube ich gerne, dass deine Eltern ohne Französischkenntnisse eine harte Zeit bei den Gendarmen hatten!
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Isch bin wieder très heureuse, pasque du aus meinem Lieblingsland berichtest. Mais hui, ich mag deinen besonderen Kamerablick und deine beschwingten Eindrücke. Wie so oft, empfinde ich deine Texte beim Lesen als sehr lebendig und ich bekomme sofort Lust auf deinen Spuren zu wandeln. Weiter so!
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Ah ja, stimmt! Das ist ja DEIN Land! Freut mich, dass du die Fotos und Texte magst 😘. Und wenn ich deine Lust, auf meinen Spuren zu wandeln, wecken konnte, umso besser! EasyJet bringt dich per Direktflug in zwei Stunden hin. Worauf wartest du 😎?
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Liebe Elke,
manchmal braucht es halt mehrere Anläufe, um das Glück zu erkennen. Von Marseille hatte ich vor deinem Bericht so gar keinen Eindruck.
Viele Grüße von Susanne
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Ja, Susanne, manchmal ist das wohl so mit den Anläufen. Aller guten Dinge sind hier in der Tat drei 😎.
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Ja, da steckt viel Weisheit drin 😉
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