Ich habe geschlafen wie eine Tote! Selbst die Geräuschkulisse im hellhörigen Hotel und das allgegenwärtige Gehupe in den Straßen und Gassen der Umgebung konnten meinen seligen Schlummer nicht trüben. Dazu waren noch nicht mal Ohrstöpsel nötig.

Nach dem leckeren Frühstück im improvisierten Kellerraum brechen wir auf zur Stadtrundfahrt. Paramjeet Singh wird uns den ganzen Tag durch den Moloch namens Delhi begleiten. Er hat Geschichte und Wirtschaft studiert und im Goethe-Institut sehr gut Deutsch gelernt.

Ja, wo sind wir hier denn? Bis vor wenigen Jahren galt Mumbai als größte Stadt Indiens. Glaubt man dem Ranking des Handelsblattes von 2019, hat Delhi nun die Pole Position eingenommen. Mit rund 28 Millionen Einwohnern muss sich die indische Hauptstadt weltweit sogar nur von Tokyo (rund 38 Millionen Einwohner) schlagen lassen. Doch auch die Silbermedaille ist aller Ehren wert.

Wie kaum eine andere Stadt setzt sich Delhi aus zwei Stadtteilen zusammen, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

Da ist zum einen Old Delhi, zwischen dem 12. und dem 18. Jahrhundert von den Moguln angelegt. Typisch hier: enge, verwinkelte Altstadtgassen, Märkte, kleine Geschäfte, Menschenmassen. Indien eben.

Zum anderen ist da New Delhi, 1911 von den Briten am Reißbrett entworfen, als Delhi Kalkutta als Hauptstadt ablöste. Typisch hier: breite Alleen, großzügige Parkanlagen, moderne Gebäude, mehr Ruhe, viel Weite und nüchterne Sachlichkeit. Westen eben.

Genug der Theorie. Rein in den Kleinbus und ins Gewühl! Gestern war auf Delhis Straßen vergleichsweise wenig los. Der Grund: wegen der seit einer Weile schlimmen Luftverschmutzung dürfen von Montag bis Freitag nur abwechselnd Fahrzeuge mit geraden und ungeraden Kennzeichen fahren. Aber heute ist Samstag. Und da dürfen alle wieder mitmischen.

Doch das langsame Vorankommen hat auch seine guten Seiten. Ich kann mich in Ruhe meinen Sozialstudien widmen und das bunte Treiben draußen beobachten. Dabei fällt mir auf, dass es hier verschiedenfarbige öffentliche Busse gibt. Des Rätsels Lösung: die roten sind klimatisiert (deshalb teurer), die grünen nicht.

Unseren ersten Stopp legen wir an der Freitagsmoschee ein. Die größte Moschee Indiens aus dem 17. Jahrhundert, erbaut aus rotem Sandstein, thront erhaben über dem quirligen Basarviertel von Old Delhi. Der fünfte und vorletzte Großmogul Shah Jahan hat weder Kosten noch Mühen gescheut, seiner Leidenschaft für Architektur prächtige Taten folgen zu lassen.

Raus aus dem Bus, diverse Bettler und Händler abgeschüttelt, Schuhe aus, 300 Rupien (3,80 EUR) für die Fotoerlaubnis gelöhnt, den schicken Umhang übergeworfen und schon kann es losgehen. Seht her, wie schön sie ist!

Frontal
Tik Tok
Gebogen
Durchsichtig
Futterquelle
Um die Ecke
Verkuppelt

Den knappen Kilometer bis zu unserem nächsten Ziel legen wir zu Fuß zurück. Auf ins abenteuerliche Gewühl von Old Delhi! Das pralle indische Alltagsleben könnte kaum eindrucksvoller demonstriert werden als hier.

Das chaotische Durcheinander aller möglichen Verkehrsteilnehmer vermengt sich mit intensiven Gerüchen nach Gewürzen, duftendem Essen, Räucherwaren und Urin. Garniert wird die ganze Szenerie durch den allgegenwärtigen Klangteppich, der zu diesem Land gehört wie das Salz in die Suppe.

Die Fahrer der zahlreichen Tuk Tuks denken nur das Vorderrad, nicht aber die beiden breiteren Hinterräder mit, wenn sie sich an dir vorbeidrängen. Da ist gute Reaktion gefragt!

Versackt
Wirrwarr

Und was es hier alles zu kaufen und zu sehen gibt! Stundenlang könnte ich hier nur sitzen und schauen. Oder besser gesagt mich an die nächste Häuserwand drücken und schauen 😎. Denn zum Herumsitzen findet sich hier kein Hauch von Platz.

Doch es hilft alles nichts. Wir müssen weiter. Wenig später überqueren wir die stark befahrene Netaji Subash Marg.

Straßenverkäufer

Auf der anderen Straßenseite drehe ich mich um. Das Motto „Schau immer nach vorne und nie zurück“ wäre hier fehl am Platze gewesen. Denn von dieser Stelle aus reihen sich gleich drei Tempel (v.l.n.r. Jain, Shiva und Sikh) wie eine Perlenkette hintereinander auf.

Tempelkette

Dann stehen wir vor dem Roten Fort. Der geistige Vater dieser gewaltigen Festungsanlage war der gleiche Mogul, der auch den Bau der Freitagsmoschee veranlasst hat. Etliche Beutezüge haben im Laufe der Zeit jedoch dafür gesorgt, dass von dem ursprünglichen Prunk und Glanz nicht mehr allzu viel übrig bleib. Eine unzureichende Instandhaltung seitens des indischen Staates trug das Ihre dazu bei.

Heute sind nur etwa 20% der Anlage öffentlich zugänglich. Den großen Rest nutzen Verwaltung und Armee. Wir beschränken uns darauf, uns am Äußeren des Forts zu erfreuen, …

Gegenlicht statt Gegenwehr
Mit der Sonne …
… ist‘s gleich schöner

… steigen wieder in unseren Bus, der am anderen Ende der Anlage auf uns wartet und widmen uns dem nächsten Ziel.

Raj Ghat ist die Gedenkstätte für die politischen Führer des unabhängigen Indiens. Auch Mahatma Gandhi wurde nach seiner Ermordung 1948 hier verbrannt. An der Stelle erinnert heute ein schlichter, schwarzer Marmorblock an Indiens große Seele.

Stilles Gedenken
Stilisiert
Richtig
Auch richtig

Noch schnell eine Anekdote, die sich in ähnlicher Form noch einige Male in den nächsten Wochen abspielen wird. Am Eingang gebe ich meine Schuhe ab. Dass ausländische Touristen das Vielfache dessen zahlen, was Einheimischen abverlangt wird, finde ich völlig in Ordnung. Zumal es sich immer noch um für unsere Verhältnisse sehr geringe Beträge handelt (hier umgerechnet 20 Cent).

Das Ende meiner Toleranz ist jedoch erreicht, wenn – wie hier – die Leute versuchen, mich beim Wechselgeld übers Ohr zu hauen. Da werde ich kleinlich. Denn ich mag die Haltung nicht, die dahinter steht. Auch wenn Bert Brecht das durchaus anders gesehen hat („Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“)

An dieser Stelle starte ich auch meine vielversprechende Karriere als Fotomodell, die erst dann abrupt enden wird, wenn ich wieder im Flieger zurück nach München sitzen werde. Egal wie oft ich hier und an all den folgenden Orten offen oder auch heimlich Menschen fotografiere …

– ich bin deutlich öfter vor als hinter einer Kamera 😎. Die Inder lieben es, sich mit Ausländern gemeinsam ablichten zu lassen!

Anschließend Mittagessen beim Inder. Wieder lecker! Und gleich weiter Richtung Neu-Delhi.

Wir fahren von einem Stau in den nächsten. Bettelnde Kinder klopfen mit Händen und Gegenständen an die Scheiben. Ein geschätzt fünfjähriger Junge legt sich gar vor, zwischen und neben die Autos auf die Straße. Hofft er, dass dann einer aussteigt, eingreift und/oder etwas gibt? Das tut aber keiner. Alle hupen warnend und fahren dann weiter, auch unser Fahrer. Zwei kleine Mädchen, kaum älter als der Junge, zerren ihn dann gerade noch rechtzeitig weg. Eine schockierende Szene.

Wir erreichen Neu-Delhi. Willkommen in der modernen Neuzeit! Hier sieht es deutlich aufgeräumter und schicker aus. Doch allzu viel sehen wir auf dieser kurzen Stippvisite nicht. Denn die Villen und offiziellen Gebäude verbergen sich großteils scheu hinter hohen Mauern. Was auffällt, ist das viele Grün entlang der Straßen. Die Engländer sorgten einst dafür, dass viele Bäume gepflanzt wurden.

Langsam rollen wir am Präsidentenpalast, …

Schöner herrschen

… dem Parlament …

Debattieren – eine runde Sache

… und dem India Gate entlang.

Durchlässig

Unseren letzten Stopp für heute legen wir am Gurudwara Bangla Sahib ein. Es handelt sich hierbei um einen der bedeutendsten Tempel der Sikhs. Näher auf den Sikhismus einzugehen würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Einen guten Eindruck und Überblick bekommt ihr hier. Hier meine fotografischen Ergüsse dieser beeindruckenden Anlage:

Von vorne
Mittendrin
Von hinten

Danach wieder zum Bus, vorbei am Leben auf der Straße, zurück ins Hotel. Was für ein Tag! Morgen geht’s weiter.

Street Life
Street Food

18 Gedanken zu “Tag 3: Delhi – Himmel und Hölle

  1. Oha, welch ein Gewusel.🙈 Ich bin nicht sicher, ob das etwas für mich ist. Mir war‘s damals in Bangkok schon zu viel. Die Architektur interessiert mich schon, insbesondere in Rajasthan…aber diese Fülle an Menschen. Puh.
    Die Freitagsmoschee und der Tempel am Ende sehen wirklich hübsch aus. Am besten gefallen mir aber tatsächlich die beiden Bilder der Inderinnen, auch wenn die nicht ganz legitim gemacht wurden.😉
    Und richtig so, nicht übers Ohr hauen lassen. Mehr zahlen ist das Eine, für dumm verkauft werden, das Andere.
    Die flächenmäßig größte Stadt der Welt ist übrigens Chongqing, falls es jemanden interessiert. Weiß ich auch nur, weil ich mal kurz da war.😅

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    1. Kann gut sein, dass dir diese Menschenmassen zu viel wären. Ich kenne Bangkok nicht. Aber einer aus der Gruppe (Andy, der eben auch im Blog kommentierte), der den Vergleich ziehen kann, meinte, Bangkok sei ein Witz dagegen 😅. Ja, das muss man ausblenden können oder sich daran gewöhnen, wenn einen das Land ansonsten interessiert. Die Architektur ist wirklich toll und sehr vielfältig! Wirste noch sehen in den folgenden Berichten. Freut mich, dass dir die „Leute“-Fotos gefallen. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit habe ich in Indien und auch in Nepal sehr viele Menschen fotografiert. Auch das wirste noch feststellen 😎. Danke für die Info über den Flächen-Weltrekord. Das wusste ich tatsächlich noch nicht!

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      1. Das kann ich mir gut vorstellen, dass du noch viele Leute fotografiert hast. Das war sicher unvermeidlich.😅 Ich glaube auch, dass Bangkok lange nicht mit Delhi mithalten kann.
        Aber eins noch: was ist dieses Tik Tok, was in der Moschee verboten ist?🤔

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        1. Das Fotografieren von Menschen war nicht nur unvermeidlich, sondern ich habe sie ganz oft regelrecht ins Visier genommen 😎. @ Tik Tok: Das Ticktack von klappernden Absätzen kann nicht gemeint sein. Sämtliche Schuhe müssen ja eh vor dem Moscheegelände bleiben. Von daher vermute ich, dass das Drehen von Musikvideos gemeint ist. Lies mal hier: https://www.businessinsider.de/tech/schock-fuer-tiktok-indisches-gericht-verbietet-videoportal-auch-aus-deutschland-kommt-eine-schlechte-nachricht-2019-4/

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  2. Ich hab’s geahnt. Old Delhi muss auf die – jetzt schon sehr lange Liste – der bei der nächsten Reise zu erkundenden Orte. Leider hat bei mir die Zeit ja nur für Neu-Delhi gereicht. Allerdings war das für einen leichten Indien Einstieg sehr gut. Jetzt bin ich gerade von Bangalore aus auf dem Weg nach Kalkutta. Schon verrückt, dass wir fast zeitgleich uns das erste Mal an dieses Facettenreiche Land gewagt haben 🙂

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  3. bei mir stand Indien nie auf dem Plan , was sage ich komplett Asien ! Ich kann mich da einfach nicht anfreunden ! Soll aber natürlich nichts heißen ! Meine Welt ist das einfach nicht !
    Ich kann mir aber sehr gut vorstellen für jemand der sich dafür interessiert Indien auf jeden Fall zur Asiatischen Welt dazugehört ohne Zweifel ! Dein Beitrag ist wie immer informationsreich und was mir immer sehr gut gefällt sind deine Bildkommentare ! Eine sehr gute Idee !
    Ich denke auch dass in Indien arm und reich sehr stark ausgeprägt ist. Vielleicht gibt es nicht mal eine Mittelschicht ! Ich weiß es nicht !
    Ich werde auf jeden Fall die Beiträge weiter verfolgen !

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    1. Doch, es gibt in Indien eine Mittelschicht. Allerdings hat diese es schwer: Viele junge Menschen, teure Ausbildungen, wenig Arbeitsplätze. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne… Außerdem sind die vielen sehr armen Menschen deutlich auffälliger im Straßenbild. Und die Reichen sind oft superreich und machen durch dekadentes Leben von sich reden.

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      1. Dankeschön für den Kommentar ! Ich denke das ganze kann man evtl. auch mit Griechenland vergleichen. Die jungen Leute haben auf den Inseln ( außer Tourismus ) auch keine großen Möglichkeiten und müssen auf das Festland. Ich habe schon Orte gesehen die sind in ein paar Jahren ausgestorben weil die Alten nicht mehr dort leben und die jungen ihrer Heimat den Rücken kehren. Die Armut trifft halt immer die Ärmsten und ich finde das grausam und ungerecht. So ist eben unsere Gesellschaft geworden und wir in Deutschland sind auf dem besten Wege die gleichen Sitiuation zu haben. Weit sind wir nicht mehr davon !!!!

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      2. Danke für deine Erläuterung! Besser für alle Beteiligten, wenn ein Indien-Profi darauf antwortet 👍. Dass die große Masse der sehr armen Leite das Straßenbild prägt, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Der Mittelschicht und/ oder reichen Indern bin ich überwiegend nur in Hotels (als Gäste natürlich) und an touristischen Attraktionen, die Eintritt kosten, begegnet. Das waren dann auch immer die Begegnungen, bei denen auch mal ein Gespräch stattfinden konnte, ohne dass es darum ging, mir irgendetwas (Waren oder Dienstleistungen) zu verkaufen.

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    2. @ Asien/ Indien: die Geschmäcker sind eben verschieden. Und das ist auch gut so! Freut mich, dass du meine Bildunterschriften magst. Ich bemühe mich auch immer, sie kreativ zu gestalten. @ Mittelschicht: da ist Birgit mir zuvorgekommen und hat schon was dazu gesagt. . Zum Glück für dich! Denn sie war schon häufig in Indien und kennt das Land viel besser als ich.

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  4. Interessanter Bericht! Mich erschreckt ein wenig, dass sich seit 1992, als ich in Indien war, nicht wirklich viel geändert zu haben scheint. Auch das Reisen mit einer organisierten Gruppe schützt einen anscheinend nicht vor dem Kulturschock, vor der Konfrontation mit Chaos, Elend und Schmutz. Danke für diese Einblicke!
    Beste Grüße
    Ulrike
    Wenn Du magst, kannst Du meine Erlebnisse in Delhi 1992 hier nachlesen: https://www.bambooblog.de/2015/03/08/02-03-08-03-92-new-delhi-internationaler-frauentag/

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    1. Sobald man hinaus ins indische Leben tritt, ist die Konfrontation unvermeidlich. Von daher spielt es keine Rolle, ob man mit mehreren aus dem Bus oder alleine aus der Rikscha steigt. Aber es ist ja auch ok, konfrontiert zu werden mit der Realität. Was den Vergleich mit 1992 betrifft, als du dort warst: gesellschaftliche Veränderungen brauchen Zeit, und manche etwas länger. Danke für die Verlinkungen zu deinem Bericht. Ich fand ihn sehr interessant!

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