12. Juli 2020
Die lange Reiseabstinenz hat bei mir hospitalistische Züge zutage treten lassen. Selbst Stefan, der deutlich sesshafter ist als ich, murmelte kürzlich sowas wie „Wäre schön, mal wieder was anderes zu sehen.“ Und was bietet sich kurzfristig ohne größere Planung besser an als ein Kurztrip zu einem Ziel in überschaubarer Entfernung? Kurz die Bucket List gecheckt und bei Görlitz hängen geblieben. Auf in Deutschlands östlichste Stadt!
Die Regionalbahn bringt uns mit Umstieg in Cottbus in insgesamt zwei Stunden und 45 Minuten in die rund 55.000 Einwohner zählende Stadt im Dreiländereck. Polen liegt direkt auf der anderen Flussseite. Auch die Grenze zu Tschechien ist nicht weit.
Wir haben uns an einem Sonntag Mitte Juli auf den Weg gemacht und staunen nicht schlecht, als wir am späten Vormittag in der nahezu gespenstischen Stille und Leere dieses beschaulichen Städtchens landen. Liegt es an unseren lärmerprobten Großstadtohren? Vielleicht. Sind hier schon Sommerferien, und alle sind verreist? Nein. Die Schulferien beginnen erst später. Hat der Freistaat Sachsen über Nacht eine Ausgangssperre verhängt? Auch nicht.
Nun, wir bleiben an dem Thema dran. Doch erst einmal checken wir im Best Western südlich des Hauptbahnhofs ein, das für eine Nacht unser Zuhause sein wird. Wenig später sind wir dann in Begleitung unserer Fotoausrüstung unterwegs.
Schon auf dem Bahnhofsvorplatz dämmert uns, dass wir trotz des aufkommenden Hungers und des festen Vorsatzes, zuallererst das Restaurant unserer Wahl aufzusuchen, nicht sonderlich schnell vorankommen werden. Zu verantworten haben wir das natürlich nicht. Ist ja schließlich nicht unsere Schuld, wenn ein Häuschen schöner ist als das andere, und der strahlend blaue Himmel sich mit so dekorativen Wölkchen schmückt 😎.

Sein Ruf als Deutschlands schönstes Schmuckstück eilt Görlitz voraus. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Städtchen fast vollständig von Zerstörung verschont. So gilt sein historisches Stadtbild als eines der besterhaltenen in ganz Mitteleuropa. Rund 4.000 überwiegend restaurierte Baudenkmäler aus der Zeit der Renaissance, des Barock, des Klassizismus, des Historismus, der Gründerzeit und des Jugendstils buhlen hier um die Aufmerksamkeit der Besucher. Dem Anlass angemessen wurden alle Fotos im übrigen in dezentem Nostalgie-Look bearbeitet.
Und damit kommen wir der Sache mit der merkwürdig anmutenden Leere und Stille schon etwas näher: Je länger wir durch die wirklich wunderschöne Altstadt schlendern, desto mehr verstärkt sich unser Eindruck, eher durch ein gigantisches Freilichtmuseum als durch eine „echte“ Stadt zu laufen. Und in der Tat wird Görlitz mitunter als das größte Flächendenkmal Deutschlands bezeichnet.
Sehr reizvoll präsentiert sich bisweilen auch der Kontrast zwischen den bis ins letzte Detail perfekt restaurierten und den – noch – in lässigem Shabby Chic verharrten Gebäuden. Wobei die in neuem Glanz Erstrahlten eindeutig dominieren.





Eine Frage drängt sich auf. Wo hatten die denn die Kohle her, um diesen riesigen Sanierungsaufwand zu stemmen? Die Antwort ist filmreif. Dass die Altstadt schon so weitgehend saniert ist, verdankt Görlitz einem anonymen Spender.
Die Geschichte beginnt 1995. Ein Anwalt aus München meldet sich bei der Stadtverwaltung und kündigt an, dass einer seiner Mandanten jährlich eine Million DM spenden will. Die Spende sei jedoch an zwei Bedingungen geknüpft: Das Geld muss vollständig in die Sanierung der Altstadt fließen, und der Spender möchte anonym bleiben. In der Stadtverwaltung lachen sie herzlich über diesen Witz – bis die erste Million auf dem Konto landet. Nachdem 2016 die 21. Spende in Höhe von 511.000 EUR verbucht ist, stellt der mysteriöse Gönner seine Zahlungen ein. Mit den immerhin rund 11 Millionen EUR konnte eine Menge bewirkt werden.
Bis heute wird darüber spekuliert und gerätselt, um wen es sich bei dem spendablen Gönner gehandelt haben könnte. Ein wohlhabender Unternehmer, der die Architektur schätzt? Ein ehemaliges Kind der Stadt, das in die Ferne emigriert ist und seine Heimat vermisst? Sogar der Name des Schauspielers Nicolas Cage fällt regelmäßig in dem Zusammenhang. Ihm werden familiäre Wurzeln in Görlitz nachgesagt. Und schließlich – dazu komme ich später noch – spielt die Stadt im internationalen Filmgeschäft eine nicht zu unterschätzende Rolle. Schaut euch die Fotos an, und ihr wisst, warum!



Gerade noch rechtzeitig vor dem körperlichen Verfall schaffen wir es, uns im Café Herzstück mit einem leckeren veganen Burger zu stärken, bevor wir uns weiter durch die Gassen treiben lassen. Egal, wie herum man läuft, landet man unweigerlich irgendwann am Wasser. Die Neiße trennt hier nicht nur Deutschland von Polen, sondern auch das deutsche Görlitz von Zgorelec, dem polnischen Teil der Stadt.
Für uns steht damit ein großer Moment bevor: wir betreten zum ersten Mal, seit Covid-19 die Weltherrschaft übernommen hat, ausländischen Boden. Nie war es so einfach! Lässig schlendern wir über die 2004 an historischer Stelle wiedererrichtete Altstadtbrücke – und schon sind wir drin!

Jenseits der Grenze angekommen, werfen wir einen ersten Blick auf die fotogene Kulisse auf deutscher Seite. Deren Hauptdarstellerin, die Kirche St. Peter und Paul, setzt sich dort eindrucksvoll ins Szene, dekorativ gespiegelt im recht ruhigen Wasser der Neiße.

Wieder zurück in den deutschen Teil der Stadt, wo wir planlos durch die urigen Gassen der Altstadt flanieren und hier und da auf den Auslöser drücken.





Dämmert euch langsam, warum sich dieses kompakte Städtchen so wunderbar als Filmkulisse eignet? Schon zu DDR-Zeiten sind hier einige DEFA-Filme entstanden. Doch der große Durchbruch gelang nach der Wende, als Hollywood das schmucke Städtchen entdeckte. Seitdem tritt Görlitz wahlweise als Paris, Budapest oder Heidelberg auf. Die Stadt ist filmisch wandlungsfähig und wird heute liebevoll Görliwood genannt.
Ja, was ist denn hier schon produziert worden? Hier eine Auswahl: „Goethe!“, „Die Vermessung der Welt“, „In 80 Tagen um die Welt“ mit Jackie Chan und Arnold Schwarzenegger und „Der Vorleser“ mit Kate Winslet und David Kross. „The Grand Budapest Hotel“ wurde gar zum größten Teil hier gedreht. Hinzu gesellen sich zahlreiche Dokus, Kurzfilme und Fernsehproduktionen. Zehn kaum schlagbare Gründe, weshalb Görlitz ein guter Filmspot ist, könnt ihr hier nachlesen.
So, und jetzt lasst uns noch ein wenig gemeinsam durch das Städtchen streichen. Zu den Themen Leerstand und „Leblosigkeit“ komme ich im nächsten Beitrag zurück.












Halt! Das nächste Schätzchen kann ich definitiv nicht unkommentiert lassen. Das Konzept Kaufhaus Görlitz – zur Zeit im Umbau und von daher nicht betretbar – ist ein Jugendstilbau par excellence und unbestritten eines der schönsten Kaufhäuser weltweit. Wer zusätzlich zum weiter oben verlinkten Beitrag mit vielen Innenaufnahmen nach noch mehr Infos lechzt, schaue bitte hier. Uns indes bleibt lediglich ein sehnsüchtiger Blick durch die schmutzigen Scheiben und auf die Handvoll historischer Fotos, die entlang der Hauptfassade aushängen. Weiter geht’s!




Puh, jetzt könnte eine Pause her! Der gigantische Postplatz eignet sich dafür hervorragend. Mit dieser Aussicht verspeist sich das in der nächstgelegenen Bäckerei gerissene Brötchen doch gleich noch besser.

Frisch gestärkt laufen wir durch den Stadtpark Richtung Fluss und erfreuen uns am Anblick der Häuserfassaden auf polnischer Seite, die sich bei schönstem Abendlicht im sanften Wasser der Neiße spiegeln.


Und schon nähern wir uns wieder der Europabrücke, die uns magisch anzieht.


Zum zweiten Mal für heute überqueren wir die unsichtbare deutsch-polnische Grenze und schlendern an der beschaulichen Promenade auf polnischer Seite entlang. Wer uns den Grenzübertritt nicht glaubt: hier ist der Beweis 😎!

Anschließend machen wir es uns an einer fototechnisch günstigen Stelle bequem und warten auf die Dämmerung. Das dauert im Sommer! Ich banne das letzte Foto des Tages auf meinen Speicherchip …

… und begebe mich in den wohlverdienten Feierabend. Einzahl? Ja! Denn für Stefan geht der Spaß jetzt erst richtig los. Der Fan der Blauen Stunde wartet auf seine Gelegenheit und lässt euch im morgigen Beitrag an seinem Ergebnis teilhaben. Gute Nacht!
sehr schön und definitiv ein Abstecher wert! Praktisch das Görlitz so ein Rentnerparadiese ist, da müssen die Straßenzüge bei Filmarbeiten nicht mal abgesperrt werden😂.
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Ja, so sieht’s aus, Sandra 😅!
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Tolle Bilder einer schönen Stadt. Ich war nur ein mal kurz nach der Wende in Görlitz – da sah es dort noch reichlich anders aus – hat sich ganz schön was getan.
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Danke! Das glaube ich gerne, dass es kurz nach der Wende da noch deutlich anders aussah. Es hat sich eine ganze Menge getan. Fahr doch mal wieder hin! Du wirst staunen. Bautzen und Zittau könntest du bei der Gelegenheit gleich auch noch „mitnehmen“. Liegt jeweils nur rund 50 km entfernt.
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super Städtebeitrag und wie gewohnt sehr informativ geschrieben ! Selbst war ich auch noch nie dort und wenn ich ganz ehrlich nicht mal groß im „Osten“ also in den neuen Bundesländer wenn ich das mal so bezeichnen darf ! Da gibt es enormen Nachholbedarf !!!
Bei den Fotos ist mir aufgefallen dass da einige in mein neues Fotoprojekt passen würden. Heute ja das letzte veröffentlicht Nr. 11 aber die Resonanz verlangt nach mehr und so mache ich mir Gedanken über Nr. 12 ! Jetzt mal aber erst eine kurze Pause !!!
Grüße Stefan von mir und ich bin auf die „blaue Nacht“ gespannt aber das macht er bestimmt mit „links “ !!!!!
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Danke! Ja, wenn die mittlerweile gar nicht mehr so neuen Bundesländer noch blinde Flecken auf deiner Landkarte sind, solltest du da unbedingt einmal hinfahren! Ich weiß, das ist nicht gerade bei dir um die Ecke, aber es lohnt sich, wenn du mal ein paar Tage Zeit hast. Wenn du dann genug hast von den diversen Städten, könntest du dir dann noch die Sächsische Schweiz anschauen. Dort ist es auch klasse! Ja, stimmt, ein paar der Fotos würden gut in dein 11. Projekt passen. Stefan schaut allerdings auch schon nach geeigneten Motiven. Er hat da tendenziell etwas mehr zu bieten als ich. Vielleicht werfen wir einfach zusammen 😎. Finde ich klasse, dass du über eine Fortsetzung deiner Reihe nachdenkst! Es macht total viel Spaß, daran teilzunehmen. Und dir fällt ja auch immer was Originelles ein. Bin schon gespannt! Wann immer es auch weitergeht.
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Das ist ja wirklich eine schöne Stadt und ein toller Beitrag. In Görlitz war ich noch nicht, aber nach deinen Fotos, habe ich mir sie auf die Bucketlist gesetzt
LG Andrea
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Danke! Das freut mich. Sehr schön auch, dass du dich hast animieren lassen, Görlitz auf deine Bucket List zu setzen. Es wird dir bestimmt gefallen!
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In Görlitz haben wir uns „nur“ den Garten angeschaut, anscheinend haben wir etwas verpasst als wir die Stadt Görlitz links liegen liessen.
Tolle Fotos 🙂
LG Susanne
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Danke! Ja, da habt ihr in der Tat was verpasst. Aber zum Glück ist Görlitz von Berlin aus schnell und unkompliziert zu erreichen. Da könnt ihr ja jederzeit mal zu einem Tages- oder wie wir zu einem Zwei-Tagestrip aufbrechen.
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Ja, das sehe ich auch so, Elke. Ich denke mal, dass wir das tatsächlich machen werden.
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Großartig! Dank Elke wieder ein neues Reiseziel entdeckt! Ich bin (wieder) begeistert!
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Immer gerne 😊. Lohnt sich ggf. auch als Tagestrip!
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Wunderschöne Fotos! Die Gewölbe-Gänge sind ja ein Traum! Und die ruhige Neiße ist ja perfekt für Spiegelungen. Alle diesbezüglichen Bilder sind perfekt gelungen.👍 Mir gefällt auch „Augenblicke“ sehr gut. Von Görliwood hatte ich als Filmjunkie natürlich schon gehört, mich aber nie näher damit beschäftigt. Sehr interessant!
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Danke! Und es freut mich, dass ich dir noch was vermitteln konnte, was du noch nicht kanntest.
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Ah und die Geschichte mit dem ominösen anonymen Spender ist ja ein Knaller! Klasse, dass es noch so Gutmenschen gibt, die völlig ohne Prahlerei agieren!
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Ja, das ist wahrer Altruismus! Der schmückt sich nicht mit seinen Wohltaten, sondern begeht sie einfach.
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