18. Februar 2020

Mit dem Bus Nummer 10 gen Süden. Am Uhrturm in Jaffa steige ich aus. Doch bevor ich mich meinem eigentlichen Ziel zuwende, drehe ich noch eine kleine Runde durch das Gewirr der kleinen Gassen. Ja, stimmt: da war ich doch schon mal! Schon vergessen? Übersehen? Dann lest in meinem Bericht zu Tag 5 nach.

Altstadtcharme

Vor drei Tagen jedoch war Shabbat. Da ging es hier recht ruhig zu. Sowohl der Flohmarkt als auch die vielen kleinen Läden, die von buntem Tand bis hin zu Mobiliar alles Mögliche verkaufen, waren geschlossen. Nun ist Leben in der Bude! Ich gehöre nicht wirklich zur Zielgruppe eines Flohmarkts. Aber dennoch genieße ich die Atmosphäre und die quirlige Geschäftigkeit sehr.

Flöhe hüten
Kunst und Markt

Shoppen strengt an! Wer zwischendurch Erholung braucht, macht es sich in einem der unzähligen Cafés bequem.

Linientreu

Meine kleiner Rundgang endet konsequenterweise wieder am Uhrturm. Ab dort folge ich den inzwischen stillgelegten Gleisen gen Osten. Über diese wurden zu Jaffas Glanzzeiten die Orangen vom Bahnhof zum Hafen transportiert. Heute rollen hier allerdings nur noch die Reifen der Autos und Fahrräder. Und hoffentlich auch der eine oder andere Schekel. Nach einer Weile stoße ich senkrecht auf die Yerushalaim Avenue. Auf deren östlicher Seite liegt das Mini-Viertel Noga, das ich nun besuchen werde.

Ich komme nicht weit, denn der Platz an der Ecke zur Nehama Street lädt zum Verweilen und Betrachten ein. Ich lehne mich jetzt mal argumentativ aus dem Fenster und behaupte: dies ist der charmanteste Platz der Stadt! Klein und lauschig, fast südeuropäisch anmutend, vor der Café-Bar Casino San Remo sitzen die Gäste angeregt plaudernd, der kleine Brunnen in der Mitte des Platzes plätschert leise vor sich hin. Nur im Theater tut sich zu dieser Uhrzeit noch nichts. Das ganze Setting hat was!

Gegenansicht
Platz da!

Ich schlendere die Nehama Street runter, schlage einen Haken hinüber zur Sgula Street, vorbei an Galerien, Manufakturen, gastronomischen Kleinoden und formschönen Gebäuden.

Hausbau(ch)

Coffee break im Cafelix. Während der köstliche Kaffee meine Kehle hinunter rinnt, muss ich daran denken, was ich in meinem Reiseführer gelesen habe: Rund 33% der Einwohner Tel Avivs sind zwischen 18 und 35 Jahre alt. Das Publikum des Cafés und auf dem Platz davor scheinen dies zu bestätigen.

Preisverdächtig

Um die Ecke geht es links eine kleine, unauffällige Treppe hoch. Oben angekommen, beginnt eine kleine Zeitreise, die mich rund 150 Jahre zurück in die Vergangenheit katapultiert. Hinter Noga liegt die deutsche Kolonie, die in ihren Anfängen allerdings erst eine amerikanische war.

Die Geschichte geht so: Mitte des 19. Jahrhunderts segelten 43 evangelikale Christen-Familien aus Maine nach Jaffa. Im umfangreichen Gepäck hatten sie Bausätze für Holzhäuschen. Der Plan war, die Rückkehr der Juden ins Heilige Land vorzubereiten und Erlösung zu finden. Ihr Anführer, ein gescheiterter Schauspieler namens George Adams, übernahm dabei die Rolle des zielstrebigen Priesters. Sein größter Erfolg lag allerdings darin, in Rekordzeit das Startkapital der Gemeinschaft zu versaufen. Dazu misslang eine Ernte, und die grassierende Ruhr forderte einige Menschenleben. Kurzum: die Sache war gescheitert.

Dann traten deutsche Templer auf den Plan und kauften den Amerikanern die Häuser ab. Im gleichen Zuge bauten sie übrigens auch Sarona. Durch diese Siedlung habe ich euch bereits an Tag 3 geführt. Lange zehrten sie von dem Ruf, den technologischen Fortschritt in diesem Land entscheidend mitgeprägt zu haben. Doch einige Jahrzehnte später wehte auch hier in der deutschen Kolonie die Hakenkreuzfahne. Die britische Mandatsregierung schob die Deutschen nach Australien ab. Das war’s dann.

Doch die Kolonie wurde, nun ohne Fremdeinwirkung, von den hiesigen Bewohnern weiter gehegt und gepflegt und ausgebaut. Und so wandelt die geneigte Besucherin heute durch diese kleine, aber feine Siedlung mit den berühmten Holzhäuschen, die nach und nach ergänzt wurden durch „modernere“ Bauten aus Stein. Mein Weg führt über einen idyllischen, kleinen Platz und vorbei an der Immanuelkirche.

Um mich herum nehme ich die dörfliche Stille und Vogelgezwitscher wahr. Fast vergesse ich, dass ich hier in einer Großstadt bin! Das quirlige Tel Aviv scheint Lichtjahre entfernt. Dabei liegt es direkt auf der anderen Straßenseite.

Dorfidyll
Hölzern
Übers Eck
Shabby Chic

Ich überquere die Eilat Street und bewege mich gen Norden. Schon bald erreiche ich die alte Zugstation HaTachana. Züge fahren hier schon lange nicht mehr. Doch das liebevoll sanierte Gelände ist in bestem Zustand und lädt zum Shoppen, Essen, Trinken, Flanieren und Verweilen ein.

Bühne frei!

Offenbar ist die sehr ansehnliche Kulisse bei den Einheimischen auch sehr beliebt als Location für Videos in Eigenregie für den „Hausgebrauch“. Es ist an diesem späten Vormittag mitten in der Woche eigentlich recht wenig los. Aber diejenigen, die da sind, drehen alle eifrig Filmchen von aufgebrezelten, tanzenden kleinen Mädchen, die Playback singen.

Ist das die Vorbereitung auf den nächsten Song Contest? Nein! Ich frage nach und erfahre, dass hier wegen der schönen Kulisse gerne Aufnahmen anlässlich von Familienfeiern wie Bar Mizwa, Geburtstag oder ähnlichem gemacht werden. Und wenn hier schon alle einen auf YouTube-Star machen, will ich doch nicht zurückstehen! Nehmt das – und ignoriert die zum ungünstigsten Zeitpunkt einsetzende Geräuschkulisse der nahen Bauarbeiten 😅.

Vorbei an den Verheißungen der Zukunft …

U-Bahn in spe

… laufe ich die Raziel Street in südlicher Richtung entlang gen Old Jaffa. Der letzte Abschnitt dieser Straße, die einst eine der rührigsten der Stadt war, ist voller kleiner Läden und erhaltenswerter Architektur mit Potenzial.

Rohdiamant

In der Nummer 15 (nächstes Foto) wohnte vor langer Zeit der Libanese Iskander Awad. Er nannte sich auch Chevalier A. Howard, um seine Geschäfte mit Westlern besser betreiben zu können. Der rührige Mann war auf vielen unterschiedlichen Gebieten unterwegs. So organisierte er mit dem Tourismus-Pionier Thomas Cook die ersten, recht abenteuerlastigen Reisen durch Palästina.

Geadelt

Der Weg zu meinem nächsten Ziel führt mich zwangsläufig wieder in die Gassen der Altstadt. Die Gelegenheit ist günstig, denn hier habe ich die Qual der Wahl, wo ich mein Mittagessen einnehmen kann. Mir steht nur der Sinn nach einer kleinen Portion, denn ich bin heute Abend noch zum Essen verabredet.

Bei Eliyahu in der Beit Eshel Street bestelle ich die kleine Variante eines köstlichen Hummus Sabbich mit Tahini, gegrillten Auberginenscheiben und hartgekochtem Ei. Was soll ich sagen? Fast bin ich geplatzt! Dabei habe ich noch nicht mal alles aufgegessen. Die Israelis und ihre Portionen 😅!

Hummus-Liebe

Ordentlich abgefüllt geht’s weiter durch die Gassen Richtung Süden. Ich laufe einen kleinen Umweg, um nicht schon wieder in den gleichen Sträßchen zu landen. Ich entdecke ja lieber Neues. Und je mehr ich in die Details von Jaffa eintauche, desto stärker verfestigt sich der Eindruck, dass ich hier in einer einstmals durch und durch arabischen Stadt bin, die Jaffa ja vor der Gründung des Staates Israel auch war.

Orientalisch

Über die Yehuda Margoza Street schraube ich mich den unvermeidlichen Hügel hinauf. Das dauert ein Weilchen. Denn sowohl die Architektur …

Rutschpartie

… als auch die eine oder andere originelle Streetart (siehe auch heutiges Titelbild) lassen mich mal hier, mal da verweilen.

Verzopft

Bevor ich in die Yefet Street gen Süden einbiege, belohne ich mich für den Aufstieg mit einem Eis als Nachtisch. Der Nadel widerstehe ich jedoch 😅. Ich kann ja nicht an allem hängen.

Überdosis

Rund 95% der Tel Avivis sind Juden mit Wurzeln in aller Welt. Entsprechend gering ist der Anteil der Muslime. Hier im südlichen Teil von Ajami, wo ich mich nun befinde, kommt mir ihr Anteil gefühlt jedoch höher vor. Die Läden wirken anders, ich höre mehr arabisch, je weiter ich mich stadtauswärts bewege. Die Menschen auf der Straße sehen anders aus. Ich passiere eine Kirche, doch in der Ferne blitzt auch schon das Minarett einer Moschee am Himmel auf.

Klar, auch hier hat die Gentrifizierung längst Einzug gehalten, erreichen die Immobilienpreise schwindelerregende Höhen wie in anderen Teilen Tel Avivs auch. Und damit halten andere Bevölkerungsgruppen Einzug. Doch noch spüre ich hier den Charme des Orients in diesem etwas verschlafen wirkenden Setting am frühen Nachmittag. Mein Hauptaugenmerk jedoch liegt wie so oft auf Architektur und Kunst.

Spitzfindig
Multikulti

Auf der Höhe des Grünen Hauses, eines palastähnlichen Anwesens, das seinerzeit für Scheich Ali, einen Tuchhändler und Plantagenbesitzer erbaut wurde, …

Grünspan

… schlage ich mich quer durch beschauliche Wohnstraßen gen Westen. Jetzt ist mir nach Meer! Wenig später stehe ich im fast menschenleeren Midron Park, einer hügeligen Grünanlage direkt am Wasser. Verglichen mit den Stränden „oben“ in Downtown Tel Aviv sind diese hier deutlich ungepflegter. Doch für einen Spaziergang auf der großzügigen Promenade reicht es allemal.

M&M
Gestrandet

Ich erklimme querfeldein das kleine Hügelchen, besetze auf dessen höchstem Punkt eine Parkbank und genieße die geniale Aussicht auf Old Jaffa in der goldenen Nachmittagssonne.

Eingenordet

Ich lasse meinen Blick von Norden nach Osten schweifen und sehe nun die Moschee, die ich vorhin von der Hauptstraße aus nur zum Teil wahrnehmen konnte.

Der Ruf des Muezzin

Und wie ich da so sitze und die Aussicht genieße, beginnt der Muezzin damit, zum Gebet aufzurufen.

Anschließend rolle ich das Hafengelände vom Süden her auf. An Tag 5 hatte ich euch ja nur den nördlichen, touristischeren Teil gezeigt. Hier jedoch sieht man noch das, was man von einem Hafen erwartet: Fischerboote.

Trockendock
Ausgebootet

Als ich auf der Höhe der großen, lindgrünen ehemaligen Lagerhalle (heute voller Restaurants) ankomme, fällt mein Blick auf ein kurios anmutendes Boot, das mir schon vor drei Tagen aufgefallen war. Es ist noch „im Umbau“ und entsprechend noch etwas, äh, unsortiert.

Doch im Unterschied zu „damals“ ist heute der Besitzer da. Wir vertiefen uns in ein sehr nettes Gespräch, nur kurz unterbrochen von einer zufällig vorbeikommenden Patientin, die ihn um einen Rat fragt. Als Arzt passiert ihm so was in seiner Freizeit wohl häufiger, erzählt Amnon. Er lädt mich kurzerhand zu einem Kaffee ein, was ich gerne annehme. Und so lande ich in einer so ganz anderen Art von „Wohnzimmer“, als ich es gewohnt bin 😅.

Ich mag ja die Leichtigkeit und Lässigkeit der Leute hier. Süden, Sonne, Meer und Wärme machen was mit einem. Nach dem Kaffee verabschiede ich mich und fange noch ein, zwei Momente im Hafen ein.

Pole Position
Augenblicke

Zurück mit dem Bus Richtung Hotel. Ich bin heute mit Verena und Mika zum Abendessen in meiner Gegend verabredet. Die beiden waren gestern und heute mit dem Auto im „Rest des Landes“ unterwegs. Ich bin schon sehr gespannt, was Verena mir, die ich es innerhalb von neun Tagen, wie schon gebeichtet, nicht geschafft habe, Tel Aviv zu verlassen, erzählen wird. Ihr auch? Dann schaut doch mal auf Verenas Blog nach!

Wir verbringen einen vergnüglichen und unterhaltsamen Abend zu dritt. Lehrreich ist es auch, denn Mika zeigt mir, wie gut sich Pommes im Glas statt auf dem Teller machen 😅. Später verabschieden wir uns, nachdem wir noch ein letztes Selfie geschossen haben. Bis hoffentlich bald in Berlin, ihr beiden!

Gruppenbild mit Wildfang

Als ich ins Hotel zurückkehre, läuft dort passenderweise „It‘s a beautiful day“ von U2. Genauso sieht’s aus 😎! Woher wussten die … ? Und so schlummere ich guter Dinge dem nächsten Tag entgegen. Bis morgen!

9 Gedanken zu “Tag 8: Tel Aviv – Faszination des Südens

  1. Ajami sieht interessant aus. Ebenso wie die deutsche Kolonie. Witzig. Die Gebäude passen irgendwie so gar nicht zu Tel Aviv, aber irgendwie auch doch.😅 Ah wie schön, so hast du den Jaffa Flea Market doch noch trubelig erleben können. Toll, wa? Ich fand’s klasse. Überhaupt ganz Jaffa. Hattest du meinen Bericht gelesen? Wir waren ja auch bei dem alten Bahnhof. Allerdings ohne Presslufthammer. Das passt immer so.🤣 Mit dem Strand im Süden kannst du mich jetzt nicht so begeistern, aber die Aussicht auf den Hafen war schon ganz nett. Da hattest du wirklich einen erlebnisreichen Tag.

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    1. Tel Aviv ist eben extrem vielfältig 😎. Ja, Jaffa an einem normalen Wochentag ist ein Erlebnis. Da war Leben in der Bude! Klar hatte ich deinem Bericht zu Jaffa gelesen und meiner Erinnerung nach auch kommentiert. Ja, der Strand im Süden war nicht so der Burner. Doch zum Flanieren auf der beschaulichen Promenade war es ganz nett. Und der Blick auf Jaffa und den Hafen unschlagbar!

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        1. Hm, dann hat der sich irgendwie verflüchtigt … Den Bericht hatte ich auf jeden Fall schon vor einer Weile gelesen. Auch bin ich mir sicher, dass ich darunter kommentiert hatte. Aber egal. Ich habe den schönen Bericht jetzt noch einmal gelesen und die tollen Fotos genossen 🥰. Und natürlich noch mal einen Kommentar abgegeben.

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    1. Immer gerne 😎. Ich freue mich auch schon sehr auf unser nächstes Treffen in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft und ein gemeinsames Essen. Wenn diese Geschichte ausgestanden ist, werden wir umso mehr schätzen, was wir in normalen Zeiten alles haben und tun können.

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