Varanasi ist das Mekka der Hindus. Die uralte Stadt an den Ufern des Ganges ist die heiligste und spirituellste aller indischen Städte. Hierher strömen seit 2.500 Jahren die Pilger, um sich beim rituellen Bad ihrer Sünden zu entledigen. Hier werden täglich die Toten verbrannt, um den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt zu durchtrennen und ins ersehnte Nirwana zu entschwinden.
In dieser Stadt findet sich in konzentrierter und verdichteter Form alles, was Indien ausmacht. Sie ist vielfältig, widersprüchlich, bunt, laut, voll, lebendig, fast grell. Lebensfreude und Trauer, meditative Versenkung und Gewusel, Tempel und Müllberge, Sonne und der Geruch nach verbranntem Holz, bittere Armut und kultureller Reichtum. Bettler in erbärmlichem Zustand und Frauen in wunderschönen, schillernden Saris. Scheiterhaufen und reges Markttreiben, untermalt von Musik. Alles gleichzeitig, nebeneinander, auf engstem Raum. Und das mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, die für uns Westler schwer zu begreifen ist. Ich wage zu behaupten: Wer Varanasi gesehen hat, hat Indien gesehen.
Am Morgen schwingen wir uns jeweils zu zweit auf Fahrrad-Rikschas und lassen uns zur etwa zwei Kilometer entfernten Altstadt radeln. Schon auf den ersten Metern hinunter zum Dasaswamedh Ghat fällt es mir schwer, weiter hinunter zum Bootsanleger zu gehen. Derart geflasht bin ich vom Theater des Lebens, das hier über die Bühne geht!

Doch das Boot ist gebucht. Und das ist auch gut so. Denn vom Wasser aus kann man das pulsierende Treiben an den 84 Ghats, die sich auf etwa vier Kilometern Länge am Westufer des Ganges verteilen, aus einer anderen Perspektive beobachten.







Wie ihr sehen könnt, sind die zum Fluß hinunter führenden Stufen recht steil und raumgreifend. Fast möchte ich den Vergleich mit einem Amphitheater heranziehen. Doch nach dessen Logik wären ja wir Bootsfahrer die Akteure auf der Bühne. Hier aber sind die Haupt- und Nebendarsteller des skurrilen Stückes, das allmorgendlich aufgeführt wird, auf den Stufen zugange.
Im Laufe der Bootsfahrt nähern wir uns dem Manikarnika Ghat, einem der beiden Hauptverbrennungsplätze Varanasis, an dem täglich bis zu 50 Tote eingeäschert werden.



Ich will ehrlich sein: Ich hatte im Vorfeld ordentlich Respekt vor diesem Moment. Aus einer Kultur kommend, in der der Tod mit Tabus und niederdrückenden Gefühlen und Ritualen belegt ist, befürchtete ich, die Fassung zu verlieren angesichts dieses derart offenen Umgangs mit dem Lebensende.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich gehe nicht so weit, von einer heiteren Atmosphäre zu sprechen. Doch ich empfinde sie als nicht annähernd so bedrückend wie bei einer Beerdigung auf einem deutschen Friedhof.
An den Bestattungen nehmen nur Männer teil. Die Frauen trauern zuhause. „No woman, no cry“? Genau deshalb. An der Farbe der Laken, die die Toten bedecken, erkennt man, ob es sich um eine Frau (golden) oder einen Mann (weiß) handelt. Bevor ein Leichnam auf den Scheiterhaufen gelegt wird, tauchen die Angehörigen ihn in den heiligen Ganges.

Anschließend umrundet der älteste Sohn – man erkennt ihn am geschorenen Kopf – …

… ihn in Anlehnung an die fünf Elemente fünf Mal, bevor er den Scheiterhaufen anzündet.


Die Einäscherung endet nach etwa drei Stunden. Die bis dahin nicht verbrannten Körperteile (Brustkorb des Mannes, Becken der Frau) werden ebenso wie die Asche dem Ganges übergeben. Ich könnte noch endlos von den Bestattungsriten der Hindus berichten, doch das würde an dieser Stelle zu weit führen. Wer es genauer wissen möchte, lese bitte hier nach.

In unmittelbarer Nachbarschaft der Verbrennungen geht unbeeindruckt das Leben weiter. Am Boden liegend eine säugende Hündin. Männer beim Kartenspiel. Kühe, die den Blumenschmuck fressen, der soeben noch den Leichnam zierte. Nebenan wird leckeres Lassi verkauft. Menschen waten im brackigen Wasser herum, suchen nach übersehenen Goldzähnen und sonstigen Hinterlassenschaften der Toten. Man erschrickt in einem Moment, um im nächsten fasziniert innezuhalten und zuzuschauen.
Wir drehen ab – nein, nicht, was ihr denkt! -, schippern wieder in Richtung des Haupt-Ghats und lassen die Eindrücke am Ufer auf uns niederprasseln. Manchmal sagen Bilder mehr als tausend Worte. Vorhang auf!









Runter vom Boot und rein ins Gewirr der engen Altstadtgassen! Was mir dort geboten wird, erfahrt ihr morgen. Die Menge an Fotos von diesem Tag, die ich euch bisher noch vorenthalten habe, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Zudem ahne ich, dass ihr das gerade Gelesene und Gesehene erst einmal verdauen müsst. Warum sollte es euch anders gehen als mir? Stay tuned!
Stimmt, das muss man erstmal verdauen. Toller Beitrag, Elke. Auch wunderbar geschrieben. Vielen Dank!
LikeGefällt 1 Person
Freut mich sehr, John. Danke!
LikeLike
Sehr beeindruckend, Elke, auch dein neuster Beitrag. Da hast du wirklich viel zu verdauen.
LikeGefällt 1 Person
Danke, Susanne! Schön, dass du die Varanasi-Beiträge mochtest. In Kürze geht es weiter!
LikeGefällt 1 Person
Ich werde mir deine Beiträge wieder für das Wochenende aufheben, um sie in Ruhe zu genießen und zu verarbeiten.
LikeGefällt 1 Person
Take your time 😎!
LikeLike
Ach ja, liebe Elke, wir sind gerade Sonntag aus Rügen nach Hause gekommen und bei mir stept der Bär. Heute unterrichte ich am Potsdamer Platz, eine Salonbesucherin kommt, um mir ein von ihr gestaltetes Zigarrenbrettchen zu bringen und so weiter so weiter ….. Vielleicht sehen wir uns ja im Salon,
Liebe Grüße von Susanne
LikeGefällt 1 Person
Faszinierende Bilder. Hast du auch das schwarze Tier mit den sechs Beinen gesehen😱?
Ich weiß gar nicht, wie ich mich fühlen würde, an so einem Ort voll Leben und Tod.Es ist so „anders“ im Vergleich zu unserer westliche Welt….
LikeGefällt 1 Person
@ schwarzes Tier mit sechs Beinen: nö 🤔. Hast du etwa was auf den Fotos entdeckt, das mir selbst entgangen ist? Ja, es ist dort in der Tat so ganz anders als bei uns. Ich fand es faszinierend, möchte dort allerdings nicht dauerhaft leben.
LikeLike
Tolle Bilder und sehr guter Text. Bei manchen Männern hätte man ja wirklich Angst, dass da ein (Hand-)Tuch verrutscht. Es gibt Sachen, die will man nicht sehen.😅 Schwer vorstellbar, dass Leute sich da waschen und „reinigen“, wo die Asche und Überreste von Toten hineingeworfen werden.🤢 Aber gut, andere Länder…
LikeGefällt 1 Person
Ah, jetzt biste dabei, die virtuelle Indienreise fortzusetzen 😎👍. Danke für das Kompliment 😘! Ja, Varanasi ist für uns Europäer aus vielen Gründen nur schwer verständlich. Aber eben auch faszinierend! Für mich war es das Highlight meiner Reise durch Indien.
LikeGefällt 1 Person
Eine vergleichbare Erfahrung, aber sicher nicht so ausgeprägt in seiner Extreme, habe ich in Kathmandu gemacht. Dort werden auch in einem Tempel am Bagmati-Fluss die Toten verbrannt. Ich dachte, es würde mir mehr ausmachen; das war nicht der Fall. Auch nicht das Schlachten der Opfertiere eine Woche später im Kali-Tempel. Es sind normale, natürliche Dinge, die zum Leben dazu gehören. Auch das Bestatten der Toten. Ich finde, wir haben bei uns einen verkrampften Umgang mit dem Tod, auch das Töten (hier: Nutztiere) ist etwas, das uns bereits fremd geworden ist. Wenn man mit solchen Dingen nicht täglich umgeht, verstören sie einen zunächst.
Ich kann nachempfinden, dass dich Varanasi nachhaltig beeindruckt hat. Das wäre mir wohl auch ebenso ergangen. War das noch im Rahmen der geführten Tour?
LikeGefällt 1 Person
Ja, der Tod ist in unserer Kultur ein gerne tabuisiertes Thema. Es wäre gut, wir könnten uns wieder mehr mit der Tatsache anfreunden, dass er nun mal zum Leben dazu gehört.
Meine komplette Tour durch Indien und Nepal fand im Rahmen dieser Gruppenreise statt.
LikeGefällt 1 Person
Es gibt in manchen Kulturen richtige Friedhofs-Picknicks zum Totenfest. Die Erinnerung an die Verstorbenen wird dadurch zu etwas Schönem.
LikeGefällt 1 Person
Das ist eine sehr gute Art, Erinnerungen in was Schönes zu verwandeln. Wir könnten uns davon eine ordentliche Scheibe abschneiden.
LikeGefällt 1 Person