Bevor der erste Teil der Heimreise naht, …

… gönnen wir uns am Sonntagmorgen bei schönstem Wetter noch das Vergnügen einer 50-minütigen Bootsfahrt auf dem Mersey River. Dafür haben wir sowohl Zeit als auch Muße. Vom Wasser aus wirkt so eine Stadt doch wieder ganz anders klasse.

Ich bin zwar nicht mehr ganz so k.o. wie gestern, aber immer noch weit davon entfernt, mich fit zu fühlen. Ich beschränke mich deshalb darauf, einfach nur auf dem Oberdeck herumzusitzen und zu schauen. Die Fotos von dieser Bootsfahrt stammen ausschließlich von Stefan. Mit einer Ausnahme. Denn beim Herumsitzen fallen mir Dinge auf, die mir vielleicht ansonsten durch die Aufmerksamkeitslappen gegangen wären. Wir gehören tatsächlich zu einer radikalen Minderheit, die beim Sitzen den Boden mit den Füßen berühren kann 😅.

Nun aber zu den seriösen Fotos!

Das folgende Foto kann ich nicht unkommentiert lassen. Denn es steht sinnbildlich für den berühmt-berüchtigten Eigensinn der Engländer. Ihr seht hier das sich noch im Bau befindliche zukünftige Stadion des FC Everton, dem zweiten Vertreter der Stadt in der Premier League. Sein Standort liegt in einem ehemaligen Dock.

Die Neugestaltung des maritimen Erbes schließt im Selbstverständnis der Stadt und ihrer Bewohner auch mit ein, die alten Docks am Mersey River mit modernen Gebäuden zu schmücken. Dass dies den strengen Auflagen der Denkmalschützer zuwiderläuft und in der Folge auch zum Verlust des Status‘ als UNESCO-Welterbe führte – drauf gesch…!

Spaß und Freude – und sei es in Form eines Fußballstadions – lassen sich die Liverpudlians nicht nehmen. Ein schnöder Titel als Hemmschuh für die Weiterentwicklung der Stadt? Den können sich gerne andere anziehen, die besser darin laufen können.

Wieder festen Boden unter den Füßen, sammeln wir unser Gepäck im Hotel ein, laufen zum Bahnhof und nehmen den Zug zurück nach Birmingham, wo unsere Reise begann und auch enden wird. Da unser Flug morgen schon in aller Herrgottsfrühe (6:20 Uhr) geht, habe ich für die letzte Nacht ein Hotel direkt am Flughafen gebucht.

Der Nachmittag ist schnell erzählt: ankommen, einchecken, in der Nähe was essen, abends vom Hotelbett aus Olympia schauen. Ich fühle mich insgesamt besser und stabiler als gestern, auch weniger erschöpft. Doch die Nebenhöhlen rebellieren weiter. Und so treffe ich am Abend eine Entscheidung: ich werde den Rückflug morgen nicht antreten. Denn ich weiß aus einschlägiger Erfahrung, dass mein Gehör mir einen Flug in diesem Zustand übelnehmen würde.

Und so macht sich Stefan am Montagmorgen um kurz nach vier Uhr alleine auf den kurzen Fußweg zum Flughafen und anschließend auf den Weg nach Berlin. Ich schlafe noch ein wenig weiter und werde kurzfristig entscheiden, wie und wann es weitergeht. Noch eine Nacht im Hotel zum Auskurieren und dann in den Zug? In einen anderen Flieger? Oder heute in den Zug und etappenweise gen Berlin? Ach, erst mal ausschlafen und frühstücken.

Wieder oben im Zimmer, erreicht mich die Nachricht, dass Stefan pünktlich und ohne Zwischenfälle in Berlin gelandet ist. Gut so! Mit meiner Entscheidung, die Rückfahrt heute per Zug anzutreten – Stück für Stück und in Etappen, je nach Zustand – beginnt für mich derweil eine etwas andere Art von Abenteuer.

Schnell ist klar, dass sich dieses Vorhaben nur mit 3x Umsteigen, sprich mit vier Teilstrecken realisieren lässt: Birmingham -> London -> Brüssel -> Köln -> Berlin. In der folgenden halben Stunde dämmert mir, dass länderübergreifendes Zugfahren in Europa zwar möglich, aber nicht unbedingt einfach so nebenbei auf die Schnelle zu buchen ist.

Zwar gibt es eine eigens dafür konzipierte Buchungsplattform, doch z.B. kann die Verbindung Brüssel-Köln darüber nicht gebucht werden, obwohl sie angezeigt wird. Diesen deutschen ICE müsste ich dann gesondert über die Seite der DB buchen. Aber egal, ich werde eh spontan entscheiden, ob das heutige Etappenziel Brüssel oder Köln lauten wird. Also buche ich jetzt nur die beiden ersten Teilabschnitte. Und das geht flott.

In England gibt es kein Pendant zur Deutschen Bahn. Hier sind stattdessen viele Privatbahnen am Start. Das hat für mich auf der Strecke Birmingham-London den Vorteil, dass gefühlt alle Nase lang irgendein Zug nach London fährt und ich somit die große Auswahl habe. Ich entscheide mich für Avanti, da diese eine Verbindung anbieten, die mir komfortabel viel Zeit bis zur Weiterfahrt nach Brüssel lässt. In meinem kränklichen Zustand kann ich Hektik nicht unbedingt auch noch gebrauchen.

Gesagt, gebucht. Nach Abschluss des Buchungsvorgangs teilt mir die Website lapidar mit, dass es kein Online-Ticket für die Strecke Birmingham-London gibt. Stattdessen würde mir per Email ein Abholcode zugesandt, den ich am Bahnhof im Fahrkartenautomaten eingeben müsse. Dann würde der Automat das Ticket ausspucken. Diese Hürde ist überschaubar – wäre da nicht der Hinweis, die Zustellung der Email könne systembedingt bis zu zwei Stunden dauern. Das wäre, hm, ungünstig, denn mein Zug fährt ja schon in etwas mehr als einer Stunde ab 😅.

Doch das Glück ist mir hold. Die Email mit dem heiligen Code trudelt rechtzeitig nach etwa 45 Minuten ein. Auf die Minute pünktlich startet meine Reise am Bahnhof …

Erleichtert mache ich es mir auf meinem Platz gemütlich und gehe gedanklich schon mal die weiteren Schritte durch. In London werde ich den Bahnhof wechseln müssen. Dieser Zug kommt in London-Euston an, der nächste Zug startet in London-St. Pancras. Zwischen beiden Bahnhöfen liegen rund 1.000 Meter Fußweg, den ich locker in zehn bis 15 Minuten würde bewältigen können. Außerdem liegen zwischen Ankunft und Abfahrt großzügige 80 Minuten.

Und während ich mir innerlich auf die Schulter klopfe angesichts meiner trotz krasser Kurzentschlossenheit so genial vorausschauenden Planung der Rückreise, trudelt eine Email ein. Der Betreiber des Eurostars (kongeniale Verbindung unter Wasser auf den Strecken London-Paris und London-Brüssel) informiert mich darin über die Details zu meiner gebuchten Zugverbindung nach Brüssel.

Ich müsse unbedingt spätestens 30 Minuten vor Abfahrt am Gate sein, denn dieses schließe dann. Ok, schrumpft mein Zeitfenster auf 50 Minuten. Auch kein Problem. Ist immer noch ausreichend Puffer. Besser sei es aber, – so erfahre ich im Folgenden – noch früher da zu sein, am besten eine ganze Stunde vorher. Ok, der zweite Hinweis ist im Gegensatz zum ersten ja nur eine Empfehlung und kein Muss. Es wäre trotzdem schön gewesen, das vorher, sprich schon beim Buchen zu wissen. Denn ich hatte heute Morgen ja genug Zeit und hätte locker einen früheren Zug nach London nehmen können.

Aber egal. Wenn sonst alles glatt geht, ist alles paletti. Keine fünf Minuten später stoppt der Zug auf freier Strecke. Ein Systemausfall der Elektronik, lässt uns der auskunftsfreudige Zugführer wissen. Ganze vier Mal muss das System neu gestartet werden. Danach geht’s weiter – aber wegen der technischen Probleme mit verringerter Geschwindigkeit. Ankunft in London-Euston mit 30 Minuten Verspätung. 12:10 Uhr statt 11:40 Uhr. Um 12:30 schließt das Gate in St. Pankras.

Nun bin ich nicht mehr ganz so entspannt 😅. Denn das Ticket für den Eurostar war richtig teuer, gilt nur für die gebuchte Verbindung, und würde mir auch nicht erstattet werden. Schließlich sind hier ja unterschiedliche Betreiber am Werk. Da interessiert es zumindest innerhalb von England niemanden, wenn du den Anschluss wegen einer Verspätung des vorherigen Zuges verpasst.

Noch während der Fahrt nach London habe ich mir den Weg von einem Bahnhof zum nächsten schon eingeprägt, damit ich keine weitere Zeit damit vertrödele, unterwegs auf Google Maps nachschauen zu müssen. Der Bahnhof Euston ist brechend voll. Und so brauche ich ein paar wertvolle Minuten, um mich durch die Menge zu wühlen. Und dann gebe ich Gas, erbettele mir freie Fahrt bzw. freien Lauf auf den Gehsteigen, renne mit dem Rollköfferchen in der Hand und dem Fotorucksack auf dem Rücken – nein, nicht um mein Leben, aber um meinen teuer bezahlten Anschluss!

London serviert mir 25 Grad und strahlende Sonne. Doch ich habe dieses Mal keinen Blick für die Schönheiten der Stadt und des Bahnhofs St. Pancras. Schweißgebadet erreiche ich um 12:28 Uhr das Gate, zwei Minuten vor Toresschluss nach einem neuen Weltrekord im Tausend-Meter-Lauf mit Gepäck. Ihr erinnert euch, weshalb ich nicht geflogen bin? Nun weiß ich: Adrenalin verdrängt Krankheitssymptome. Ich habe es geschafft.

Ja, natürlich war mir im Vorfeld klar, dass es irgendwo eine Passkontrolle geben wird, dem Brexit sei Dank. Doch auf die Show hier im gesondert abgetrennten Bahnhofsbereich des Eurostars war ich ehrlich gesagt nicht vorbereitet. Nach der Gepäckkontrolle im klassischem Flughafen-Standard folgen gleich zwei hintereinander liegende Passkontrollen. Erst wollen die Briten und danach die Franzosen den Papierkram sehen.

Im Abfertigungsterminal des Eurostars ist es brechend voll. Zum einen sind europaweit gerade Sommerferien. Zum anderen hält mein Zug nach Brüssel auch im französischen Lille. Und dort finden die Basket- und Handballspiele der Olympischen Spiele statt. Fast ein Wunder, dass ich so kurzfristig überhaupt noch einen Platz in diesem Zug ergattern konnte.

Egal, ich bin drin. Wenn auch auf den allerletzten Drücker. Und auch dieser Zug fährt pünktlich los. Die Fahrzeit soll planmäßig knapp unter zwei Stunden betragen. Ich spüre dank meines Infekts bei der Fahrt durch den Tunnel einen leichten Druck auf den Ohren, aber das lässt sich gut aushalten. Das wäre im Flieger sicher deutlich schlimmer gewesen. Und irgendwann sehen wir wieder Land.

Kurz vor Lille stoppt der Zug auf offener Strecke. Systemausfall … Mehrere Neustarts … Dann weiter mit reduzierter Geschwindigkeit wegen technischer Malaisen … Und mehrmals täglich grüßt das Murmeltier! Schlussendlich fährt der Eurostar mit einer Stunde Verspätung in der belgischen Hauptstadt ein. Wie gut, dass ich im Vorfeld kein Ticket für eine weitere Teilstrecke erstanden habe.

Da ich mich aber fit genug fühle, noch eine Etappe weiter zu reisen, schlage ich mein Nachtlager nicht in Brüssel auf, sondern buche vor Ort ein Ticket für den nächsten ICE nach Köln. Die Strecke bis dorthin ist ja überschaubar. Und siehe da: unsere viel gescholtene Deutsche Bahn serviert mir ist den einzigen Zug an diesem Tag, der pünktlich startet, unterwegs keine Pannen hat und auch noch pünktlich ankommt.

Gegen 20:30 Uhr lande ich in einem Hotel in Laufweite des Hauptbahnhofs, das ich auf der Fahrt hierher auf die Schnelle online gebucht hatte. Puh, geschafft! Im doppelten Sinne des Wortes. Jetzt duschen, Füße hochlegen, ein kühles Bierchen trinken, kurz bei Olympia reinschauen und ins Koma fallen. Für heute gilt: Home is where the Dome is.

Am Dienstagmorgen nehme ich die letzte Etappe meiner Rückreise in Angriff. Meine Zugfahrt nach Berlin verläuft weitgehend unspektakulär. Und so lande ich mit nur 30 Minuten Verspätung da, wo ich hingehöre. Ach nee, streicht mal den Spandau-Zusatz!

Epilog: Am nächsten Morgen fühle ich mich schon weitgehend fit. Doch weil ich am Nachmittag mit einer Bekannten verabredet bin, gehe ich vorsichtshalber auf eine einschlägige Teststrecke. Was soll ich sagen? So positiv war ich selten …

15 Gedanken zu “Liverpool – Und die Geschichte einer Rückreise

  1. Es ist schade, wie schwierig es ist, landerübergreifend mit dem Zug zu fahren. Kein Wunder, dass sich noch immer so viele für den Flug entscheiden. Obwohl auch da die einstige Zuverlässigkeit schon lange nicht mehr gegeben ist.

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    1. Stimmt, an Zuverlässigkeit haben beide Verkehrsmittel eingebüßt. Und solange das Fliegen über den von dir genannten Punkt hinaus auch nicht nur schneller geht, sondern in der Regel auch um einiges billiger ist als das Zugfahren, ist es noch ein weiter Weg bis hin zur Verkehrswende. Schade!

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    1. Ja, letztendlich hat alles geklappt. Es war dann halt nur etwas nervenaufreibender als vorher gedacht 😅.

      @Briten und die Wahrheit: Ich dachte, Lügen hätten kurze Beine und nicht die Lügner 🧐?!! Muss ich dann wohl falsch verstanden haben 🤪.

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  2. Du liebe, liebe Zeit… Gerade als kränkelnder Mensch wäre ich froh gewesen, in einem Flieger zu sitzen und meine Ruhe zu haben. Deine Odyssee hört sich stressig an, auch wenn du alles ziemlich cool und positiv gemeistert hast – oder ist es nur mein Eindruck beim Lesen? Denn irgendwie kann ich mir eine gehetzte, fluchende und schlecht gelaunte Elke nicht recht vorstellen 😉 Schön, dass alles soweit geklappt hat. Für mich dennoch die Bestätigung, Zugfahrten mehr wie so eine Art… tagesausfüllendes Freizeitvergnügen zu betrachten. Nehme ich gerne, wenn ich entspannt bin und nur mal durch die Gegend fahren möchte, aber als Fortbewegungsmittel von A nach B, wenn ich ein ZIEL habe? Das ich zeitig erreichen will? Öhm…

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    1. Wenn ich nur einfach so etwas kränklich gewesen wäre, hätte ich auch den Flieger vorgezogen. Aber wenn die Nasennebenhöhlen entzündet sind, funktioniert der Druckausgleich nicht mehr richtig. Und das geht dann gleich voll auf die Ohren bei Start und Landung. Ich bin schon mal mit derartigen Problemen mit den Nebenhöhlen arglos in den Flieger gestiegen. Und dann hatte ich plötzlich das Gefühl, jemand habe mir ein Messer in das eine Ohr gerammt. Das tat richtig heftig weh, und ich habe danach geschlagene drei Tage auf diesem Ohr nichts mehr gehört. Das mache ich nie wieder! Denn das kann, wenn man Pech hat, langfristige Schäden verursachen. Und noch bin ich ganz froh mit einem funktionierenden Gehör 😅.

      Ach, Fluchen und schlechte Laune habe ich schon im Repertoire. Aber an dem Tag fehlte mir die Energie dafür 🤣.

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      1. Ach, ich weiß schon… es gibt so Zeiten, da lässt man einfach schicksalsergeben alles auf sich zukommen, weil selbst zum Schimpfen die Energie fehlt 🙂

        Flieger: in diesem Fall war es wohl gut, dass du nicht eingestiegen bist. Ich denke, das kannst du am Ende am besten einschätzen 😉

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  3. Was für eine Odyssee, liebe Elke! … aber gleichzeitig was für eine tolle Idee für eine Rückreise. Deine klingt zwar nicht so entspannt und entschleunigt wie das Zugreisen eigentlich idealerweise sein sollte, aber getreu dem Motto: der Weg ist das Ziel … 😉😜

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