19. – 20. Juli 2024
Nach einer Nacht mit ausreichend Schlaf starten wir doch gleich noch viel energetischer in den Tag.
Draußen erwarten uns 27 Grad mit leichtem Wind. Für eine Stadtbesichtigung täten es auch ein paar Grad weniger. Doch wir wollen uns nicht beklagen, denn es hätte uns im Nordwesten Englands auch im Sommer nass und kalt treffen können.
Unser Weg führt uns auch heute durch den Bahnhof New Street, wo uns eine etwas ausgefeiltere Variante des Recyclings von Bechern ins Auge fällt.

Kaum haben wir den Bahnhof verlassen, entdecken wir draußen nicht ganz zufällig die Bildergalerie zur Fernsehserie Peaky Blinders – Gangs of Birmingham, die wir vor einer Weile geradezu verschlungen haben. Auch wer die bösen Jungs nicht kennt oder wenig mit ihnen anfangen kann, erfreut sich vielleicht an der künstlerischen Gestaltung der Bilder.

Doch das ist nicht das einzige, was uns hier in der Innenstadt auffällt. Vielmehr registrieren wir verwundert einige mit elektronischer Fußfessel ausgestattete Straftäter, die das zweifelhafte Schmuckstück ohne unnötige Hemmungen offen zur Schau stellen. Zu den im Sommer hier obligatorischen Shorts trägt Mann die Fessel wahlweise unter oder über den meist schneeweißen Socken. Nun denn …
Wir setzen unseren Stadtrundgang dort fort, wo er gestern endete: an der schicken Public Library. Ihr erinnert euch sicher an den Stapel Weihnachtspäckchen von gestern, oder?

Da wir es gestern wegen der frühen Schließzeit nur bis zur Terrasse im dritten Obergeschoss geschafft hatten, nehmen wir heute einen zweiten Anlauf für den Rest. Der Secret Garden im siebten Stockwerk ist richtig toll! Er entpuppt sich als ruhige, schattige Oase mit formidabler Aussicht.

In der neunten Etage erwartet uns der Shakespeare Memorial Room, der sich ganz oben in der goldenen „Hutschachtel“ des Gebäudes befindet. Hier findet ihr die wohl bedeutendste Sammlung von Shakespeare-Werken weltweit. Und auch der Raum selbst kann sich sehen lassen. Falls ihr euch wundert, wieso der Baustil nicht zum Rest des Gebäudes passt: als die alte Bibliothek abgerissen wurde, wurde der Saal zerlegt und in das neue Gebäude integriert.

Von der Bibliothek aus trennen uns nur noch wenige Meter von einem Teil der Stadt, der kontrastreicher nicht sein könnte. Sind wir hier wirklich noch in Birmingham? Sieht eher aus wie auf dem Lande und kommt auch total gemütlich daher! Westlich der Innenstadt beginnt mit dem Gas Bassin die grüne Oase Birminghams, die sich weitläufig entlang der ehemaligen Transportkanäle erstreckt.
Hier treffen wir auf buntbemalte Hausboote, kleine Pfade mit Kopfsteinpflaster und zahlreiche Pubs und Cafés. Der Straßenverkehr der Stadt scheint hier Lichtjahre entfernt – sowohl optisch als auch akustisch. Weit kommen wir erst einmal jedoch nicht. Denn das Jazz- und Blues-Fest ist schon gegen Mittag in vollem Gange. Und so lauschen wir eine ganze Weile richtig toller Livemusik.
Nun meldet sich der Hunger. Zeit für ein Mittagessen! In Hörweite und direkt am Kanal finden wir ein Plätzchen draußen in einem Restaurant. Die erste Frage, die uns dort gestellt wird, kaum dass wir uns niedergelassen haben: Irgendwelche Allergien? Wir wundern uns, doch der nette Adam hat prompt eine Erklärung parat: rund 25% der Engländer hätten heutzutage Allergien, lässt er uns wissen. Restaurants seien deshalb mittlerweile verpflichtet, das vorab abzufragen.
Den weiteren Nachmittag verbummeln wir an den lauschigen Ufern der Kanäle bei schönstem Wetter. Hier gefällt es uns richtig gut. Euch auch?






Kurz bevor wir unseren Rundgang an der nächsten größeren Straße beenden, kommen wir noch ins Gespräch mit einer jüngeren Frau vom Canal & River Trust, einer Vereinigung zum Schutz und Erhalt der Kanäle und Flüsse. Wir kommen vom Hundertsten ins Tausendste. Das alles hier wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen. Ich fasse es mal in einem Satz zusammen: die Engländer haben sich mit dem Brexit keinen Gefallen getan. Weder wirtschaftlich noch persönlich.
Waren fehlen oder sind durch Zölle teuer geworden. Qualifiziertes Personal aus dem Ausland bleibt weg. Selbst alltägliche Dienstleistungen wie z.B. die Müllabfuhr können nicht mehr durchgängig gewährleistet werden in manchen Kommunen. Und unsere Gesprächspartnerin musste ihre Studienpläne für Berlin begraben. Die formalen Hürden waren zu hoch für sie.
Nach einer Siesta im Hotel ziehen wir gegen Abend wieder los. Ging es tagsüber an den Kanälen rund um das Gas Bassin und den Brindley Place ruhig und beschaulich zu, so erleben wir nun das Kontrastprogramm. Die Party ist in vollem Gange an diesem Freitagabend! Wir genießen die Lebensfreude, das tolle Licht und die schöne Stimmung am Kanal, wo sich gefühlt die halbe Stadt tummelt. Dass Birmingham eine recht junge Bevölkerungsstruktur aufweist, glauben wir spätestens jetzt.


Am nächsten Tag ist es nicht mehr ganz so warm, dafür aber drückend schwül. Regen liegt in der Luft. Doch das Wetter wird bis zum späteren Nachmittag halten. In der Innenstadt ist die Hölle los an diesem Samstag. Alle Brummies scheinen hier unterwegs zu sein.
Uns jedoch zieht es heute etwas mehr stadtauswärts. Auf dem Weg dorthin schaffen wir es nur mit Mühe und Not, uns dem charmanten Werben eines kurios kariert gekleideten älteren Herren zu entziehen, der uns in ein nicht minder kurioses Museum locken will. Schon mal was von Coffin Works gehört? Ja, ihr habt richtig gelesen. In dieser alten Handwerksfabrik wurden früher Sargbeschläge und Leichentücher hergestellt. Auch Sargdekorationen gehörten zum Repertoire – und die Royals (Queen Mum, Lady Diana) sowie diverse Politprominenz (Winston Churchill) zu ihren Kunden. Ihr könnt die Räumlichkeiten übrigens auch für Veranstaltungen aller Art mieten. Der Fantasie sind da kaum Grenzen gesetzt. Next time! Heute haben wir was anderes vor.
Nach einem kurzweiligen Fußweg erreichen wir das Jewellery Quarter. Das Viertel ist seit etwa 250 Jahren das Zentrum der britischen Schmuckindustrie. Bis heute stammen rund 40% aller britischen Schmuckstücke von hier. Dank der vielen auch von außen sehr ansehnlichen Handwerksläden und Museen, der spannenden Kunstszene und vielfältigen Gastronomie zählt das Jewellery Quarter zu den attraktivsten Vierteln Birminghams. Das können wir gut nachvollziehen.



Dieser charmante Stadtteil in leichter Hanglage ist sicherlich auch ein toller Ort zum Wohnen. Ob er noch erschwinglich ist, sei dahingestellt. Wir wissen es nicht.
Kaum haben wir die Kreuzung mit dem markanten Uhrturm passiert, fällt uns noch eine Attraktion der etwas anderen Art ins Auge. Das Eingangsgebäude eines alten Friedhofs an der Warstone Lane …

… lockt uns ins Innere. Passt ja auch irgendwie zu der Geschichte mit dem Coffin Museum. Kaum haben wir die Anlage betreten, bemerken wir den doch recht desolaten Zustand der Grabmäler und parkähnlichen Grünanlagen. Das reizt uns natürlich noch mehr, uns hier etwas genauer umzusehen.


Rechterhand des Hauptwegs sehen wir in der Ferne einen langen, überdachten Verkaufstisch, ähnlich einem Marktstand. Wir kommen näher und trauen unseren Augen kaum. Steht da etwa ein …? Nee, kann nicht sein. Wäre doch echt makaber. Oder?
Doch! Und passend dazu trägt ein sehr nettes und gesprächiges Mitglied des hiesigen Hilfsvereins Friends of Key Hill & Warstone Lane Cemeteries auch ein einschlägig gemustertes Kleid. Hach, nicht zuletzt deshalb liebe ich England und vor allem die Engländer 😅.


Nachdem wir uns bei einem kühlen Getränk im Hinterhof eines der kleinen Künstlercafés gestärkt haben, schlendern wir noch ein wenig im Viertel umher. Bald landen wir an der St. Pauls Kirche, auf deren Außengelände heute nicht nur ein Markt, …

… sondern als kulturelles Highlight auch ein Musikfestival stattfindet. Dort lassen wir uns nieder und bereuen es keine Sekunde. Auf sehr hohem Niveau werden uns hier Songs von Frank Sinatra bis Donna Summer geboten. Sowohl die Sänger als auch die Band sind richtig klasse. Und das Publikum trägt ebenso auf unterhaltsame Weise zur ausgelassen-heiteren Stimmung bei.



Wir können uns kaum loseisen. Doch der Hunger treibt uns einige Zeit später doch weiter. Nach einem späten Mittagessen irgendwo in der Stadt setzt der Nieselregen ein. Nun wird es ungemütlich. Wir drehen eine schnelle Runde durch Chinatown und werden danach Zeugen der eindrucksvollen Multikulti-Kulisse auf einem der Wochenmärkte im Stadtzentrum. Ein gelungener Abschluss in Birmingham! Morgen ziehen wir weiter.
Danke für den schönen Bericht. Da habt ihr wieder viel angeschaut und erlebt. Schön finde ich, dass ihr neben oder statt den klassischen Sehenswürdigkeiten lebendige Stadtviertel besucht. Birmingham sieht richtig interessant aus.
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Freut mich, dass dir der Beitrag gefallen hat, Inga. Ja, Birmingham lohnt unbedingt einen Besuch, gerade weil es nicht so sehr touristisch ist.
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Ja, also das Städchen hat mich beeindruckt und ich denke, euch auch. So viel, das einem beim Durchlesen deines Beitrags durch den Kopf geht. 1. Wie „zerlegt“ man einen ganzen Saal und verfrachtet ihn woanders hin? 2. Wie reagiert man auf einen Spaziergänger mit Fußfessel? Wechselt man unauffällig die Straßenseite? Versucht man, nicht hinzuschauen? Verwickelt man denjenigen in ein Gespräch? 3. WAS hat die freundlich aussehende Dame denn da auf dem Friedhof verkauft? War das eine Attrappe oder wirklich ein Skelett ihrer Großtante? (kleiner Scherz, letzteres gab mir mein Kopfkino vor…) 4. Die Konsequenzen aus dem Brexit hatte ich bereits vor Augen, als die Entscheidung der Briten für die Abspaltung fiel. Nie hätte ich geglaubt, dass sich autonom durch die Weltgeschichte schlagen vorteilhafter für den Staat und seine Bürger wäre als eingebettet in eine zwar bürokratisierte und durchregulierte, aber sich doch in vielen Belangen gegenseitig unterstützende Union. Auch deshalb sind den Briten keine weiteren Länder gefolgt, selbst die „bösen Buben“ der EU belassen es dabei, gegen sie zu wettern, an Abspaltung denkt wohl ernsthaft niemand. Es hat einfach zu viele Vorteile, ein ernstzunehmender Staatenverbund zu sein.
So, das war das Wort zu Sonntag, ich freue mich schon auf weitere Städte, in die du uns mitnehmen wirst.
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Absolut! Birmingham fanden wir beide klasse. Und es freut mich sehr, dass dir beim Lesen so viele berechtigte Fragen durch den Kopf geschossen sind 😁. Zu 1.: das ist ja ein mittlerweile durchaus gängiges Verfahren. Haben wir hier in Berlin am Potsdamer Platz mit dem Kaisersaal des alten Hotel Esplanade auch schon durchgezogen. Eine technische Erklärung kann ich dir adhoc nicht liefern. Aber ich googele das nachher mal. 2. Wir haben ungeniert hingestarrt in dabei gehofft, das das in der Anonymität einer Großstadt unbemerkt bleibt. Dann sind wir wortlos weiter unserer Wege gegangen, ohne die Straßenseite zu wechseln 😅. 3. Die hatten da alles Mögliche an Merchandising Artikeln im Angebot. Schlüsselanhänger, Stifte, der übliche Kram halt. Nur eben anlassbezogen mit Skeletten und Totenschädeln. Was das Skelett in Lebensgröße betrifft, so habe ich es versäumt, gezielt nachzufragen. Ich hoffe auf eine Attrappe. Es sei denn, die Großtante stand als Typ gerne im Rampenlicht 😎.
@Brexit: ja, so isses! Und nun ist Manchester an der Reihe.
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Danke für die ausführlichen Antworten, das bringt mich schon mal weiter 😉 Zu 3: irgendwie hätte ich da auf stilechte Voodoo-Puppen oder ähnliches spekuliert, aber Schlüsselanhänger? Jetzt bin ich dezent enttäuscht…
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Kann ich verstehen 😁.
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Interessant, interessant … aber stellt euch das mal bei Dauerregen vor…
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Wie in jeder anderen Stadt auch bei suboptimalem Wetter, denke ich 😎.
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Ganz schön viel roter Backstein. Aber schön anzusehen, das Ganze. Wetter ist natürlich erfolgsentscheidend bei so einer Reise. Der Markt ist fast wie in Asien, so quirlig und laut. Danke für die Eindrücke.
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Immer gerne 😎. Stimmt, Backstein haste da in Hülle und Fülle. Und dass das Wetter mitspielte, hatte natürlich schon einen klaren Vorteil.
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