7. Mai 2023

Echt jetzt? Keine Aufzeichnungen? Keine Stichworte über die Namen der Gebäude hinaus? Na das kann ja heiter werden. Oder wortkarg. Je nachdem. Mal schauen, welche Geschichten die Fotos erzählen.

An dieser Stelle ist ein Geständnis fällig, oder besser gesagt ein Blick hinter die Reisekulissen. Unter Bloggerkolleginnen und -kollegen ist es ein offenes Geheimnis, dass es mitunter schwierig werden kann, unterwegs gute, sprich später verwertbare Notizen zu fertigen, wenn ein Reisepartner mit an Bord ist. Mein grüner, mürrischer Begleiter im Rollstuhl schweigt ja im Allgemeinen. Auch stellt er keine Ansprüche.

Anders sieht es hingegen bei Stefan aus. Er hat eine Meinung, äußert sie, und fordert bisweilen Aufmerksamkeit, Zeit und Beschäftigung ein. Lasse ich auf einer Soloreise in der Regel abends in aller Seelenruhe den Tag Revue passieren und schreibe das Erlebte und meine Gedanken dazu zumindest stichwortartig auf, so klappt das bei Reisen in Gesellschaft eher weniger.

„Spielen wir noch eine Runde Billard?“ „Machen wir jetzt das Abendessen?“ „Ach, da kommt noch ein Baseballspiel im Fernsehen. Lass uns das doch anschauen.“ „Auf dem Platz vor dem Yankee Stadium spielen sie wieder Softball. Sollen wir da noch mal kurz vorbeigehen?“ “ Wir müssten noch mal zum Supermarkt.“ „Da gibt es auf YouTube eine tolle XY-Serie zur Street Photography. Die wollte ich dir noch zeigen.“ „Wie ist der Plan für morgen?“ Und so weiter und so fort 😅. Und auch wenn Stefan „brav“ ist und schweigt: er ist da, läuft hier, hockt da, lenkt ab, nimmt Raum ein, mental, körperlich und akustisch. Das ist schön ♥️! Förderlich für das Schreiben ist es allerdings nicht.

So, dann schauen wir mal, wie wir anhand der Fotos den heutigen Tag rekonstruieren können. Unser Weg führt uns zunächst tief in den Süden Manhattans zum Ground Zero Campus. Klaffte dort seit den verheerenden Anschlägen vom September 2001 über viele Jahre hinweg eine riesige Wunde in Form einer tiefen Baugrube, so ist mittlerweile ein brandneues und völlig anders gestaltetes Areal entstanden, das die Energie und den Erneuerungswillen der Stadt so meisterhaft zum Ausdruck bringt. Dort ballt sich auf engstem Raum einiges, was uns interessiert.

Wir beginnen mit dem unbestrittenen architektonischen Star des Areals, dem Okulus. Dieses Meisterwerk von Santiago Calatrava – ja, ich weiß, der Name fällt oft in diesem Blog! – überspannt sowohl den Pendlerbahnhof für die Züge ins jenseits des Hudson Rivers gelegene New Jersey als auch eine großzügige Shopping Mall. Elegant spannt es seine extravaganten Flügel, die den Aufstieg des Phoenix aus der Asche symbolisieren. Nicht nur das Äußere, sondern auch die inneren Werte überzeugen.

Beflügelt
Im Übergang
Raumgreifend
Verbindend

In einem der schier unzähligen Gänge entdecken wir einen Ausstellungs- und Projektraum, dessen Frontscheiben einige handschriftlich verfasste Gedanken unterschiedlicher Menschen zieren. Wir sind berührt davon, was da zu lesen ist. Hier ein kleiner Auszug:

Zurück an der Erdoberfläche, schauen wir uns das 9/11 Memorial mit den beiden ausgesparten, mit Wasser gefüllten Grundrissen der beiden früheren Türme und den dekorativ im Hintergrund hochragenden One World Tower an. Mit beiden werden wir uns später noch genauer beschäftigen, heute jedoch nicht.

Im Grundriss
Unvergessen
Ausgefahren

Flashback ins Jahr 2000. Wir standen damals an genau dieser Stelle. Die beiden identischen Türme des World Trade Centers ragten in ihrer schlichten Schönheit in den an diesem Tag neblig-grauen New Yorker Himmel. Wir hatten vor, hinauf auf die Aussichtsplattform zu fahren. Doch die Aussicht auf fehlende Aussicht hielt uns davon ab. Nichts ahnend, was etwas mehr als ein Jahr später passieren würde, schrieb ich vor fast auf den Tag genau 23 Jahren an meine geneigte Leserschaft, seinerzeit noch per Email: Wieder festen Boden unter den Füßen, schleichen wir Richtung World Trade Center. Auch dieses ist sehenswert. Leider hält uns das ab bestimmten Höhen neblige Wetter davon ab, auf das höchste Gebäude der Stadt zu „steigen“. In diesem Moment bedauern wir zum wiederholten Male, am noch sonnigen Dienstag nicht auf das Empire State Building hochgefahren zu sein. So blieb uns New York von oben verborgen. Wir waren jedoch mit Sicherheit nicht das letzte Mal hier!!! Und es ist doch eher unwahrscheinlich, dass King Kong in absehbarer Zeit wieder sein Unwesen treiben wird, oder?

Twin Towers im Nebel
Auf der Weide

Nur wenige Schritte entfernt steht das kleine, strahlend weiße griechisch-orthodoxe Kirchlein St. Nicholas, das uns wegen seiner interessanten Architektur anzieht. Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir recht lange warten mussten, bis die dekorativ linierte Fläche davor endlich weitgehend leer war. Doch das Warten hat sich gelohnt.

Griechisch-orthodox

Zum nächsten Ziel nehmen wir die U-Bahn und packen beim Warten im Bahnhof dann doch noch einmal die Kameras aus. Leben im Untergrund – einmal anders.

Reingerauscht

Weiter nördlich in Midtown steigen wir aus und laufen zur Moynihan Train Hall. Die neue Bahnhofshalle ist definitiv ein architektonisches Highlight. In überschaubaren drei Jahren Bauzeit wurde die 1912 gebaute Posthalle in eine Erweiterung der bisherigen Penn Station verwandelt. Als die nächste Abfahrt eines AMTRAK-Langstreckenzuges angekündigt und die Fahrgäste nach traditioneller Manier in der Halle abgeholt werden, erfasst mich für einen kurzen Moment der Wunsch, mit einzusteigen. Doch ich widerstehe und verschiebe die Tour in die hoffentlich nicht allzu ferne Zukunft.

Schöner reisen

Von dort aus sind es nur noch wenige Hundert Meter zum Areal der Hudson Yards. Bei meinem letzten Besuch anno 2015 war die Gegend noch vollständig Baustelle. Lediglich der High Line Park war schon begehbar. An seinem nördlichen Ende schaute ich seinerzeit in Baugruben und auf Hochhäuser im Embryostadium. Nun bin ich gespannt, was daraus geworden ist!

Auf dem Weg dorthin schauen wir auf einen knallroten Baum und viel Stahl, Glas und Beton. Was soll ich sagen? Das Ergebnis kann sich sehen lassen! Unsere Architekturherzen schlagen höher. Und der Nachmittag verfliegt im Nu. Darf ich vorstellen? The Shed! The Edge! The Vessel!

Angewurzelt
Stahl, Glas und Beton
Im Brennglas

The Shed & The Edge

Innenansicht
Schöner liegen
Leider Geschichte

Eine kurze Anmerkung zum letzten der obigen Fotos, von der website meinestadtnewyork.de entnommen, denn uns wurde dieser Ausblick verwehrt. The Vessel war nie als klassische Aussichtsplattform konzipiert, sondern als begehbares Kunstwerk. Wie alle öffentlich begehbaren Objekte mit Ausblick lockte auch dieses von Beginn an Menschen, die ihrem Leben ein todsicheres Ende setzen wollen. Nach mehreren erfolgreichen Suiziden war das Kunstwerk temporär nicht mehr zugänglich.

Da die klassischen Sicherheitsmaßnahmen (Gitter etc.) bei einem Kunstwerk nicht das Mittel der Wahl sind, entschied man sich dafür, künftig Eintritt zu nehmen und Besuche von Einzelpersonen nicht mehr zu gestatten. Wenige Wochen später nutzte dann ein mit seiner Familie angereister 14-jähriger Junge einen kurzen unbeaufsichtigten Moment, um sich von dort oben in die Tiefe zu stürzen. Tragisch und traurig! Und seitdem steht fest: The Vessel wird nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Man darf das Schmuckstück nur noch von außen bzw. innen nur noch unten vom Boden aus anschauen. Schade!

Am späteren Nachmittag treten wir die Heimreise in die Bronx an. Gedanklich befasse ich mich schon damit, den Tag Revue passieren zu lassen und mich meinen Aufzeichnungen zu widmen. „Auf dem Platz vor dem Yankee Stadium spielen sie wieder Softball. Sollen wir da noch mal kurz vorbeigehen?“, sagt Stefan. Aber ja doch, mein Kleiner! Entdeckt ihr ihn in dem Video, wie er, alle überragend, sehnsüchtig über den Zaun schaut ♥️?

22 Gedanken zu “New York City – Ground Zero und Hudson Yards

    1. Ja, ging auch ohne Notizen. War zwar etwas mühsamer, bin aber mit dem Ergebnis auch selbst sehr zufrieden. @NYC mit oder ohne Partner: da widerspreche ich dir erwartungsgemäß. Es ist anders schön für mich, in Begleitung unterwegs zu sein, aber nicht grundsätzlich schöner. Da gehst du zu sehr von deinen traditionellen Vorstellungen als Maßstab für den Rest der Welt aus 😜.

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  1. Elke ich weiß nicht mehr was ich schreiben soll ! Die Fotos sind mal wieder so gigantisch dass mir die Worte fehlen.
    Nur ein paar Beispiele : Stahl-Glas- Beton , Unvergessen , Twin Towers im Nebel, Angewurzelt
    Eigentlich könnte ich alle aufführen !!
    Ganz große Klasse !!!!!!!!!!!!!!!!

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  2. Oh, da musste ich doch zu Beginn dieses Beitrages schmunzeln und nochmal schmunzeln… I FEEL YOU, Elke! Ja, so ist es. Stefan (ob der deine oder ob der meine…) ist da, nimmt Raum ein, existiert und atmet. Bei uns klappt das inzwischen mit den Aufzeichnungen insofern ganz gut, als dass mein Stefan am Abend auch eher seine Ruhe braucht. Und wenn ich morgens am Schreiben bin, schicke ich ihn raus. Egal, wohin, egal, ob es draußen plus vierzig oder minus dreißig Grad sind und die Wölfe heulen, Hauptsache raus 😉 Denn ohne meine Notizen fällt es mir schwer, das Erlebte zu rekonstruieren.

    So, und jetzt lese ich deinen Beitrag weiter, aber das musste ich loswerden 🙂

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    1. Ich wusste, dass zumindest DU mich verstehst. Stimmt, atmen tun die Jungs ja auch noch! Hatte ich in meiner Aufzählung doch glatt vergessen 😂. Dass dein Stefan morgens vor die Tür komplimentiert wird, ist natürlich ein hartes Los. Aber er hat sich ja offenbar mit seinem Schicksal arrangiert und auch überlebt bisher, trotz Hitze, Kälte und wilden Tieren. Mit einem Zigarettchen läuft der Laden ,wa 😁?

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  3. Ooooh, du hast so ein grandioses Foto von den Twin Towers!? Darauf bin ich ja total neidisch. Super! Schon mal an dieser Stelle gestanden zu haben, muss noch viel bewegender sein.
    Ich hatte dir ja schon erzählt, dass ich die High Line schrecklich fand. Was aber auf die Massen an Menschen und keinesfalls auf die umliegende Gegend zurückzuführen war. The Vessel & Co. waren dann aber wieder genießbar. 🙂 Für die Tragik um dieses Gebäude habe ich keine Worte. Ich persönlich kann die Schließung nicht nachvollziehen. Wenn ich wollte, hätte ich auch einen Weg vom Dach des Rockefeller Centers finden können. Wird das geschlossen? Nö. Wer will, findet Wege. So ist das Leben. Schade, dass das Kunstwerk so seinen Sinn nicht mehr erleben darf.

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    1. Ja, dass ich schon mal livehaftig vor den Twin Towers gestanden habe, führt tatsächlich dazu, dass dieser Ort mir sehr viel Gänsehaut und Emotionen beschert. Die High Line ist halt auf dieses schmale Schienenband reduziert. Da quellen die Menschenmassen schnell über. Wenn du gleich morgens früh so gegen 9 Uhr dort herumläufst, kannst du den Park besser genießen. Ich finde, er hat was! Die Geschichte mit The Vessel finde ich auch schräg. Wie du schon sagst, wer seinem Leben ein Ende setzen will, findet immer Mittel und Wege. Ich finde es auch schade und wenig nachvollziehbar, dass das Kunstwerk nun nicht mehr begehbar ist.

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